Roland Böer – Ein Dirigent zwischen Oper und Symphonie

Interview mit dem Dirigenten Roland Böer

Roland Böer – Ein Dirigent zwischen Oper und Symphonie

Roland Böer - Interview mit einem Dirigenten

Herr Böer, Sie dirigierten in den letzten Jahren an vielen großen Häusern, hauptsächlich Opern. Wie kam es eigentlich zu dieser Ausrichtung?

Ihre Frage spiegelt zunächst einmal sehr anschaulich wider, wie ich als Dirigent von der Öffentlichkeit subjektiv wahrgenommen werde. Dass ich „hauptsächlich“ Opern dirigiere, stimmt insofern, als sich einer Opernproduktion in der Regel sechs bis zwölf Vorstellungen desselben Stückes anschließen, und sich somit ein quantitatives Übergewicht einstellt. In der Tat stehen im Kalenderjahr 2010 mit „Tiefland“, „Matrimonio“, „Un giorno di regno“, Albert Herring“, Les contes d’Hoffmann“ und „Figaro“ sechs Opern insgesamt acht Sinfoniekonzerten mit unterschiedlichen Programmen (Rimsky-Korsakoff, Dvorak, Brahms, Henze, Schubert, Rudin, Glanert, Strauss u.a.) gegenüber, die natürlich nur ein bis zweimal gespielt werden.

Über dieses Gleichgewicht bin ich sehr froh – denn so sehr ich ein „Opernmensch“ bin, hungert und dürstet es mich bisweilen doch gewaltig nach der von außermusikalischen Belangen ungetrübten und intensiven Beschäftigung mit der großen sinfonischen Literatur.

Wie war der Beginn Ihrer Karriere?

Im Grunde gibt es ja zwei gängige Möglichkeiten, die erste Sprosse der Dirigentenkarriereleiter zu erklimmen. Die eine ist, sich einem der renommierten Dirigentenwettbewerbe zu stellen (die ja in der Regel von Sinfonieorchestern ausgeschrieben werden), und als Preisträger ein Sinfoniekonzert zu dirigieren. Mit etwas Glück schließt sich eine Wiedereinladung, eine Beschäftigung als Assistent oder aber auch bereits ein Engagement als Gastdirigent für weitere Konzerte  an. Damit zeichnet sich ein Weg zunächst in das sinfonische Repertoire ab. Der andere, von mir eingeschlagene Weg war der, den man landläufig als klassische Kapellmeisterlaufbahn bezeichnet, und der seinen Anfang eben in der Oper nimmt, sofern man gut genug Klavierspielen kann.

Abgesehen davon, dass ich schon als Kind von Oper begeistert war, ist mir während meines Musikstudiums klar geworden, dass  viele wesentliche Aspekte des Dirigentenberufs in einer Hochschule weder lehr- noch lernbar sind. Glücklicherweise kamen meine beiden wichtigsten Lehrern, Günther Wich und Peter Falk, dieser Auffassung grundsätzlich entgegen und bereiteten alle ihre Klavier spielenden Studenten auf Probespiele bei Agenturen und Opernhäusern vor, wohl wissend, dass man als Korrepetitor, von der Soloprobe angefangen, über die szenischen Proben, die „Tastendienste“ im Orchester und das Dirigieren hinter der Bühne bis hin zur einen oder anderen Vorstellung, die man dirigieren darf, einen unschätzbar wertvollen Überblick über das Opernrepertoire einerseits, und die zwischenmenschlichen, psychologischen Herausforderungen im Umgang mit Dirigenten und Solisten andererseits, sozusagen „spielend“ erhält.

Gleich nach meinem Studienende 1996 bekam ich eine Stelle als Solorepetitor an der Oper Frankfurt/Main und war im Anschluss daran, von 1999 bis 2001, Solorepetitor mit Dirigierverpflichtung an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf/Duisburg. Obwohl mir damals im Vertrag lediglich zwei Vorstellungen „Hänsel und Gretel“ zugesichert worden waren, durfte ich schon in der ersten Spielzeit  30 Abende dirigieren – darunter Kuriositäten wie die Operette „Meine Schwester und ich“, natürlich „Myfair Lady“ und „Der Vetter aus Dingsda“, aber immerhin auch Händels „Alcina“ und „Zar und Zimmermann“.  Alle Stücke zum ersten Mal und natürlich ohne eine einzige Orchesterprobe gehabt zu haben! Eine harte und gute Schule im Hinblick auf Dirigiertechnik und die Unmissverständlichkeit meiner Zeichengebung. Wenn ich ein Tempo nicht gleich „erwischt“ hatte oder ein Übergang gar zu arg „knirschte“, dann wusste ich: Das wirst Du wohl bei der nächsten Vorstellung anders lösen müssen! Seit dieser Zeit habe ich mir angewöhnt, möglichst oft Videoaufzeichnungen der Orchestergrabenkamera machen zu lassen, um nach Proben oder Vorstellungen besser mit mir selbst ins Gericht gehen zu können.

Höhepunkt meiner Assistentenzeit war sicherlich die intensive Zusammenarbeit mit Antonio Pappano, dem ich noch während meiner Frankfurter Korrepetitorenzeit vorspielte, und der mich daraufhin als Assistenten nach Bayreuth holte, für eine Neuproduktion des „Lohengrin“. Im Laufe der folgenden Jahre habe ich dann bei Produktionen in Brüssel und London assistiert- Opernhäuser, an die ich Jahre später als Dirigent zurückkommen durfte. Antonio Pappano bewundere ich zutiefst – als Mensch und Musiker – und kann nicht mit Worten sagen, wie viel Ermutigung und Bestätigung ich ihm verdanke. Neben allem, was ich von ihm über Musik und das Musizieren, den großen Bogen und das innere Drama gelernt habe, habe ich eines gelernt, was für mich unmittelbar mit dem Beruf des Dirigierens zusammengehört: „To be generous!“

Als ich schließlich im Januar 2002 als Kapellmeister an die Oper Frankfurt zurückkehrte, fand ich eine – im Vergleich zu meiner Korrepetitorenzeit – völlig veränderte Situation vor: Bernd Loebe war gerade im Begriff, die Intendanz anzutreten und seit Beginn seiner Amtszeit befindet sich das Haus bis heute in voller Fahrt auf Erfolgskurs. Dass ich nun, nachdem ich seit zwei Jahren freiberuflich arbeite, nach wie vor in Frankfurt mit großen, verantwortungsvollen Aufgaben betraut werde, ist meiner jahrelangen, vorausschauenden und klugen Förderung durch ihn zu verdanken, für die ich ihm sehr, sehr dankbar bin.

War ihre Familie musikalisch?

Meine Eltern haben sich während des Studiums der bildenden Kunst an der Städelschule in Frankfurt kennengelernt und waren später beide als Lehrer bzw. Ausbilder vor allem für die Fächer Kunst und Musik tätig. Mein Vater spielte Violine und heute noch mit Vorliebe die Gambe. Das Klavierspielen hatte er sich leidlich selber beigebracht. Meine Mutter spielt bis heute Klavier und Cembalo und meine Schwester, heute Hautärztin in Hamburg, Violine oder Bratsche. Es wurde viel musiziert, jedoch ohne jeden professionellen Anspruch.

Ich selbst spielte früher neben dem Klavier auch Violoncello und habe so in den verschiedensten kammermusikalischen Besetzungen eine Menge wunderbarer Musik kennengelernt.  Bis heute macht mir das Musizieren mit anderen Musikern, sei es am Klavier vierhändig, oder als Begleiter  von Sängern oder Instrumentalisten, die allergrößte Freude. Vielleicht liegt hier auch der Keim meines Wunsches, Dirigent zu werden.

Sie haben ja auch Komposition studiert. Schreiben Sie derzeit auch an Stücken?

Nein, bis auf einen Marsch für die Blaskapellen rund um Montepulciano, den ich unter einem Pseudonym anlässlich des diesjährigen „Cantiere“ schreibe, leider gar nicht – mir fehlt einfach die Zeit und Ruhe dazu. Aber es ist mein Traum, eines Tages etwas weniger zu dirigieren und dafür mehr zu schreiben. An Ideen und Plänen mangelt es mir nicht, wahrscheinlich aber an dem für einen „echten“ Komponisten typischen, existentiellen Bedürfnis, alles andere dem Komponieren hintan zu stellen.

Allerdings gab die Einstudierung und Aufführung einer eigenen Komposition, einer Suite für das Schulorchester des Goethe-Gymnasiums, dessen Schüler ich war, wiederum einen weiteren Anstoß, Dirigent werden zu wollen. Ich war damals vielleicht 16 Jahre alt, hatte während einer Orchesterfreizeit meinen Musiklehrer überredet, mir mit meinem Stück eine Chance zu geben, und stellte mich tatsächlich vor das große Orchester aus Mitschülern und dirigierte und probte mein Stück, ohne jemals vorher Dirigierunterricht gehabt zu haben. Naiv genug, um mir über die Schwierigkeiten des Dirigierens völlig im Unklaren zu sein, und andererseits von einer klaren Vorstellung vom klanglichen Resultat geleitet, ging dieses „erste Mal“ erstaunlich gut und hat mir einen Riesenspaß gemacht. Darüber, dass meine älteren Mitschüler mich unter Umständen nicht ernst nehmen könnten, dachte ich tatsächlich keine Sekunde lang nach!

Heutzutage, wenn ich vor ein Orchester trete, das ich bis dahin noch nicht kannte, mischt sich in meine Vorfreude mittlerweile immer etwas Nervosität- die freilich schnell verfliegt, mir aber deutlich macht, dass professioneller Anspruch und kritische Distanz zu sich selbst ihren Preis hat. Gut so, denn das lässt mich bescheiden bleiben und unprätentiös auf die Sache, die Musik konzentriert meine Arbeit machen.

Und das bedeutet, neben vielen anderen Aspekten des Dirigierens, zu delegieren. Im Idealfall gelingt es, die individuellen Musikerpersönlichkeiten in einem Orchester mit zwei-drei zündenden und überzeugenden Ideen auf ein gemeinsames Ziel hinzulenken. Was für Ideen das sind, kann sehr unterschiedlich sein und ist natürlich vom Stück abhängig: Die Wahl des „richtigen“ Tempos („richtig“ hier natürlich nur im Sinne von „dem interpretatorischen Ansatz angemessen“), stilbedingte Absprachen bezüglich gemeinsamer Artikulation und Phrasierung, die Suche nach der passenden Grundfarbe usw. Schließlich ist es meine Aufgabe, das persönliche Engagement und die eigene musikalische Verantwortung eines jeden zu beflügeln und eine im Rahmen der aufgestellten „Spielregeln“ möglichst frei und inspiriert sich entfaltende Kreativität jedes einzelnen Musikers zu ermöglichen.

Ich bin einmal von einem Journalisten gefragt worden, ob bei meiner Berufswahl die „Lust an der Macht“ eine Rolle gespielt hätte. Das ist natürlich völliger Blödsinn. Machtausübung um ihrer selbst Willen wird von den hoch spezialisiert ausgebildeten Mitmusikern sofort als solche entlarvt und durch für den Dirigenten in der Regel außerordentlich unangenehme gruppendynamische Prozesse wirkungsvoll abgeblockt. Es mag vereinzelt Orchester geben, die – aus welchen Gründen auch immer – eine harte Führung bevorzugen.  Im Allgemeinen glaube ich jedoch, dass der diktatorische Dirigententyp heute einfach nicht mehr ernst genommen wird.

Wie sehen Sie genau Ihre Rolle als Dirigent einer Oper?

In der Oper gibt es zu Beginn der Einstudierung in der Regel eine große Diskrepanz zwischen dem Grad der Vorbereitung der Solisten und jener der Orchestermusiker – bezogen auf den „Kenntnisstand“ am ersten Probentag. Sängerinnen und Sänger bereiten sich oft mit langem zeitlichen Vorlauf akribisch und bis ins kleinste Detail auf ihre Rollen vor, machen womöglich historische Studien und lesen Sekundärliteratur. Spätestens zu Beginn der szenischen Proben sollten sie ihre Rollen auswendig beherrschen. Je nach Künstler hat bereits während der Vorbereitung ein Identifizierungsprozess begonnen, der einer Rolle bereits in einem verhältnismäßig frühen Probenstadium lebendige Gestalt geben kann.

Eine erste Orchesterprobe hingegen hört sich ganz anders an. In der Regel liest der Großteil eines Orchesters ein neues, bisher nicht gespielte Stück „vom Blatt“ – nicht umsonst spricht man in England von „readings“ und in Frankreich von „lectures“. So vergehen leicht drei Orchester-Allein-Proben nur damit, sich einmal durch die Partitur zu kämpfen. Als ich große und lange Opern wie „Die Meistersinger“, „Der Rosenkavalier“ oder „Arabella“ zu proben hatte, wurde mir bewusst, wie unglaublich knapp die Zeit mit dem Orchester in einem normalen Repertoirebetrieb bemessen ist.

So sehr ich es mir wünschen würde, es bleibt oft keine Zeit, um den Musikern etwas zum inhaltlichen, dramaturgischen Bezug des Orchesterparts zum Bühnengeschehen zu sagen. In vielen privaten Gesprächen mit Opernorchestermusikern (die ja im Graben gewissermaßen „unter Tage“ arbeiten)  hörte ich aber heraus, wie wichtig das Gefühl für jeden Einzelnen ist, einen im Wortsinne  sinn-vollen Beitrag zu leisten. Daher ist es mir ein großes Anliegen, die Bedeutung und Wichtigkeit des Orchesterparts zu unterstreichen und bewusst zu machen, egal wie nichtssagend die betreffende Instrumentalstimme gerade aussieht. Und gerade die leisen, zarten, leeren Stellen sind es ja oft, die plötzlich Raum für Imagination und Zauber geben. Bei Strauss beispielsweise trifft man das Gegenteil an: hier sind eigentlich alle Stimmen thematisch oder motivisch abgeleitet und sehen daher oft zu bedeutend aus! Hier muss der Dirigent für größtmögliche Transparenz des Orchesterklanges und eine fein austarierte Balance zu den Solisten oder dem Chor auf der Bühne sorgen.

Ist es für Sie schwieriger mit den Sängern zu arbeiten oder mit dem Orchester?

Die Arbeitsweise ist ähnlich, setzt aber mitunter andere Schwerpunkte. Schlüssel zum Erfolg ist in jedem Fall immer das gemeinsame Ziel und der gute Wille, das Ziel gemeinsam zu erreichen. Im Allgemeinen empfinde ich die Arbeit mit Sängern als unkompliziert, gerade weil ich in der Lage bin, mich selbst ans Klavier zu setzen und mit einem Sänger in einer privaten, geschützten Atmosphäre Fehler zu korrigieren, an einer Stelle weiter zu feilen usw. Auf den szenischen Proben reichen dann oft kurze Erinnerungszurufe, um das Musikalische mit dem Szenischen in vollen Einklang zu bringen.

Die Arbeit mit einem Orchester erscheint im direkten Vergleich zunächst einmal weniger persönlich. Zum einen kann man nicht jeden einzelnen Musiker aus 80 – 100 Mitwirkenden so kennen, wie man die sechs Protagonisten einer Mozartoper über sechs Wochen szenische Probenarbeit kennenlernt. Zum anderen spielen die Streicher grundsätzlich in großen Tutti-Gruppen, was eine namentliche Anrede (mit Ausnahme der Stimmführer) ausschließt. Individuelle Kommunikation findet hier zunächst eher mit den Bläsern, die ja alle solistisch spielen, statt.

Gerade deswegen ist es aber, wie ich finde, die Aufgabe eines Dirigenten, eine dennoch „persönliche“ Atmosphäre zu schaffen, in der sich jeder instinktiv respektiert und geschätzt fühlt. Augenkontakt zu suchen und zu halten, und bewusst mitzuatmen sind für mich physische Grundvoraussetzungen des gemeinsamen Musizierens. Ansonsten gilt für mich der „Knigge“ des menschlichen Umgangs. Respekt, Geduld, Diplomatie und die Fähigkeit, einmal „Fünfe gerade sein zu lassen“ sind unabdingbar.

Ich unterbreche zum Beispiel in der Probe nur, wenn es unbedingt notwendig ist und versuche dabei zu beherzigen, was James Levine einmal sagte, nämlich dass ein Dirigent erst abbrechen sollte, wenn es mindestens drei wichtige Sachen zu proben gäbe. Bei einer zufällig falsch gespielten Note abzubrechen, ist unnötig, ja respektlos. Denn vor allem der betreffende Spieler wird es selbst gehört haben und wird den Fehler kein zweites Mal mehr machen.

Sie sind einer der wenigen Operndirigenten, die das Orchester selbst vom Cembalo oder Hammerklavier aus leiten. Das ist doch eine zusätzliche, enorme Herausforderung!

Ich finde es ganz selbstverständlich, das zu tun. Es war ja im Barock und in der Frühklassik ganz normal, dass die Kammerorchester vom Instrument aus dirigiert wurden, und ich mache es immer gerne, außer, es spricht technisch etwas dagegen – wenn beispielsweise das in der Mitte des Orchesters stehende Instrument den darum sitzenden Musikern den Kontakt untereinander erschwert, oder aber, wenn es wie im Fall meines Einspringens für „Cosi fan tutte“ im vergangenen Dezember hier in Straßburg ohnehin jemanden gibt, der die Rezitative auch während der anderen Vorstellungen gespielt hatte, und das Timing der Inszenierung besser kennt als ich.

Wenn ich im Sommer während des „Cantiere“ in Montepulciano Albert Herring von Benjamin Britten dirigiere, werde ich natürlich, wie vom Komponisten vorgesehen, alle rezitativischen Szenen mit Klavier selbst spielen.

Sie versuchen also so gut es geht, eine historische Treue zu wahren?

Ich glaube, Harnoncourt sprach einmal von einer „historisch informierten“ Aufführungspraxis. Es gibt allerdings eine derartige Fülle an sich teilweise auch noch widersprechenden Quellen, dass es mir vorkommt, als müsse man einen Ozean mit dem Teelöffel leerschöpfen. Neben der ernsthaften Beschäftigung  mit aufschlussreichem Material hole ich mir daher grundsätzlich Rat von erfahrenen und spezialisierten Musikern und Musikwissenschaftlern – nicht nur von Dirigenten, wohlgemerkt! Es ist eine Binsenweisheit, dass es „die eine“ Interpretation ohnehin nicht geben kann, und jeder Versuch, der nach bestem Wissen und Gewissen gewagt wird, lediglich eine Annäherung an ein Werk bedeutet – nicht mehr.

Keine Lösung kann behaupten, alles zu zeigen, was in der Partitur eines „Meister“ -Werkes steckt. Grundvoraussetzung aller Ansätze sollte dennoch und gerade deswegen ein genaues Bewusstsein der Details und deren handwerkliche Bewältigung sein. Ob eine Interpretation letztlich überzeugt, ist eine Frage der übergreifenden Idee, des große Bogens, der für den Zuhörer nachvollziehbar ist und ihm einen Zugang zu dem betreffenden Stück ermöglicht.

Ein Dirigent wie Harnoncourt stoppt in seinen Proben beinahe in jedem Takt, erklärt beinahe jede einzelne Note, steht das nicht im Widerspruch dazu?

Harnoncourt, aber auch Mackerras, Norrington oder Gardiner können als Stellvertreter für all diejenigen Dirigenten angesehen werden, die aufgrund ihrer jahrzehntelangen Nachforschungen, Studien und der damit erworbenen umfassenden Kenntnis der Materie in der Lage sind, Auskunft über jeden einzelnen Ton einer Partitur zu geben. Das ist hochinteressant, äußerst lehrreich und im Prinzip nacheifernswert. Es gibt allerdings auch Dirigenten, die während der Proben deshalb gerne reden und viel erklären, weil sie das, was sie vermitteln wollen, mimisch und gestisch nicht zeigen können. Die Aufführung des Probenergebnisses kommt dann eher einer Dressurvorführung gleich, bei der wenig Platz für die „Kür“ bleibt.

Sie sprachen vorhin von nur wenigen Ideen, die ein ganzes Stück tragen können. Welche waren das im Fall von Cimarosas Oper „Il matrimonio segreto“ in Straßburg?

Cimarosa erfordert eine ähnlich differenzierte Artikulation und Phrasierung wie Mozart, wobei ich glücklicherweise an unsere erste Zusammenarbeit mit „Le nozze di Figaro“ anknüpfen konnte. Instinktiv empfinde ich Cimarosa jedoch noch eine Spur barocker  – vieles erinnert mich sogar an Händel. Wichtig war mir, von vorneherein Spielregeln zur Art und Weise der Tonerzeugung aufzustellen. Die Streicher mit ihren teilweise alten oder älteren Instrumenten konnten dies selbst in moderner Stimmung gut umsetzen. Von den Bläsern und Blechbläsern einschließlich der Hörner  erforderte dies jedoch oft große Anstrengung, weil hier die meisten Musiker moderne Instrumente spielen. Ein interessantes Feld ist zudem, was ich gerne als Aufspüren der „Binnendynamik“ innerhalb einer vom Komponisten vorgegebenen Lautstärke bezeichne. Ich habe viel Sorgfalt darauf verwendet, statisch-orgelhaft wirkenden Passagen Leben einzuhauchen. Anders als bei Mozart ist die Musik von Cimarosa von starker Motorik geprägt, einem Stilmittel, das bereits auf Rossini und Donizetti hindeutet. Abschnitte von 16 oder 32 Takten, getragen von uhrwerkartigen Begleitfiguren, lässt er gerne dreimal unverändert wiederholen und bildet damit große architektonische Formzusammenhänge, wie später die grandiosen Rossini’schen Steigerungswalzen. Die beabsichtigte Wirkung ist allerdings nur  über eine gewissenhafte Selbst-Kontrolle im Hinblick auf die dynamischen Abstufungen zu erzielen.  Als weiterer Punkt spielt das vokale wie instrumentale Parlato eine herausragende Rolle, wobei die „Gerade-Noch-Singbarkeit“ interessante Rückschlüsse auf die Tempogestaltung zulässt. Die Wortspiele in den Rezitativen finden ihre Entsprechung im musikalischen Witz der Partitur, den es herauszuarbeiten galt. Kontrastierend dazu habe ich versucht, den wenigen Ruhepunkten der Verinnerlichung des ansonsten von Psychologie relativ ungetrübten Stückes echte Geltung und Tiefe zu verschaffen.

Fühlen Sie sich in einer bestimmten Musik beheimatet?

Ich war immer offen für alle möglichen Stile und habe mir meine Neugierde glücklicherweise bewahrt. Dies gilt insbesondere natürlich für den Bereich der Symphonik, in dem ich mir seit einigen Jahren bereits konsequent ein ständig wachsendes Repertoire erarbeite. Sicher liegt mir das Deutsche Fach, insbesondere Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Strauss, Bruckner und Mahler, doch habe ich gleichermaßen eine große Affinität zu Verdi und Puccini. Eigentlich liebe ich alle Musik, die mich emotional bewegt und dabei gleichzeitig geistig fordert. Strawinsky, Schostakowitsch, Schreker, Henze, Messiaen oder Dutilleux, um nur einige zu nennen, würde ich jederzeit gerne dirigieren. Besonders aber freue ich mich darauf, anlässlich meines Debüts beim Liverpool Philharmonic Orchestra im Dezember die britische Erstaufführung der „Drei Gesänge ohne Worte“ meines Freundes und Mitstreiters in Montepulciano, Detlev Glanert, zu leiten.

Sie sprachen von Montepulciano, dem Ort, in dem alljährlich, seit der Gründung durch Hans Werner Henze im Jahre 1976, das Festival „Cantiere Internazionale d’Arte“ (Internationale Kunstwerkstatt) abgehalten wird. Möchten Sie kurz etwas darüber erzählen?

Detlev Glanert und ich wurden Anfang 2009 mit der künstlerischen bzw. musikalischen Leitung des „Cantiere“ betraut, und zwar zunächst für einen Zeitraum von drei Jahren. Eine große, verantwortungsvolle und wunderschöne Aufgabe, deren Bewältigung uns beide seither täglich viele Stunden in Atem hält! Für jedes der drei Jahre wählten wir als programmatische Überschrift jeweils einen der Schauplätze in Dantes „Divina Comedia“: Inferno, Purgatorio und Paradiso. Einerseits, um eine notwendigerweise zu treffende Auswahl aus der übergroße Fülle unserer Ideen zu motivieren, andererseits, um von Vorneherein dem Dreijahreszeitraum eine Geschlossenheit in sich zu geben.

Das Besondere des „Cantiere“ ist, dass die mitwirkenden Künstler – seit der Gründung des Festivals durch Hans Werner Henze – grundsätzlich keine Gage bekommen und „um der Sache Willen“ wirklich nur für Kost und Logis arbeiten. Gerade darauf  beruht jedoch der künstlerische und ethische Erfolg einer kreativen Zusammenarbeit von Profis, Studenten und Schüler unter gleichen wirtschaftlichen Bedingungen.

Wer sich dafür entscheidet, in Montepulciano zu arbeiten, muss wissen, dass das Cantiere kein kommerzielles Festival ist, sondern es um sozialpolitische Aspekte und inhaltliche Fragen von Kunst geht. In dieser Atmosphäre haben im Laufe der Jahre viele große Künstler gearbeitet, darunter Marcel Marceau, Micha van Hoecke, Franca Valeri, Salvatore Accardo, Giuseppe Sinopoli, Peter Maxwell Davies, Cecilia Bartoli und Gidon Kremer.

Diese Rahmenbedingungen stellten für uns allerdings eine der größten Herausforderungen überhaupt dar. Um unsere Pläne für Opernproduktionen und Sinfoniekonzerte verwirklichen zu können, haben wir das Orchester des Royal Northern College of Music in Manchester engagiert, eine handverlesene Auswahl der besten Instrumentalstudenten, die hoch professionell und hoch motiviert ihre Chance wahrnehmen, sich im Rahmen des „Cantiere“ auf ihr Berufsleben vorzubereiten und darüber hinaus Auftrittsmöglichkeiten im Rahmen von Kammerkonzerten geboten bekommen.

Eine unserer jahresübergreifenden Ideen war es, „Artists-in Residence“ einzuladen, Solisten, die in verschiedensten Kombinationen mit dem Orchester, aber auch in Kammermusikabenden oder Solorezitalen auftreten. Mir hat es ein besonderes Vergnügen bereitet, Künstler aufeinandertreffen zu lassen, die sich bis dahin noch nicht kannten, geschweige denn miteinander musiziert hatten – einfach aus meinem persönlichen Instinkt heraus. Im vergangenen Sommer waren das der deutsche Pianist Markus Bellheim und der schwedische Violinist und Dirigent Tobias Ringborg. Das künstlerische Ergebnis war überwältigend, und die beiden werden auch in Zukunft- unabhängig vom „Cantiere“ zusammen auftreten. In diesem Sommer wird Markus Bellheim wieder mit dabei sein, zusammen mit Tatiana Samouil und Justus Grimm, der Konzertmeisterin und dem Solocellisten der Brüsseler Oper, Teâtre de la Monnaie.

Wahrlich sensationell ist das Engagement eines der bedeutendsten Regisseure unserer Zeit, Keith Warner, für unsere diesjährige Produktion von Benjamin Brittens Oper „Albert Herring“ – umso mehr, als Keith Warner von sich aus bei mir anrief, um seine Mitarbeit anzubieten! Noch dazu haben wir eine Sängerbesetzung, die sich an jedem großen Haus hören lassen könnte.

Im Konzertbereich wird der Euphoniumspieler Steven Mead als in seinem Metier ähnlich berühmter Solist auftreten und ein im Auftrag der Stuttgarter Sinfoniker eigens für ihn komponiertes Werk für Euphonium und großes Orchester von Rolf Rudin aufführen.

Überhaupt setzt das Festival neben Werken des klassischen Repertoires einen Schwerpunkt auf Neue Musik, neben 20 Uraufführungen wird es auch in der Reihe der italienischen Erstaufführungen zwei besondere Momente geben: Die Oper „Luci mie traditrici“ von Salvatore Sciarrino und die Aufführung des Orchesterstücks „Fandango“ von Hans Werner Henze. Insgesamt werden mehr als 40 lebende Komponisten mit ihren Werken vertreten sein, unter ihnen auch Bernard Foccroulle, derzeit künstlerischer Leiter des Festivals von Aix-en-Provence.

Haben Sie persönlich Wünsche für Ihre Zukunft?

Ich wünsche mir, dass sich die Zusammenarbeit mit den Opernhäusern und Sinfonieorchestern, mit denen ich bisher arbeitete und die fruchtbar und erfolgreich war, in Zukunft eine Fortsetzung und Intensivierung erfährt. Immer nur zu debütieren, d. h. das erste Mal irgendwo zu dirigieren, um schließlich überall einmal gewesen zu sein, ist für mich nicht interessant und erstrebenswert. Viel entscheidender ist doch die Frage, ob und unter welchen Bedingungen es zu einer Wiedereinladung kommt, da das „zweite Mal“ die eigentliche Herausforderung darstellt. Denn hier gilt es, sich zu bewähren! Und Grundsteine zu legen für zukünftige, dauerhafte, von gegenseitigem Vertrauen geprägte Beziehungen. Nach meinen Debüts beim London Symphony Orchestra oder am Opernhaus Covent Garden war mir, trotz des Erfolges und des absolut positiven Feedbacks, völlig klar, dass es nicht sofort zu einer Wiedereinladung kommen würde, denn diese international herausragenden Institutionen planen natürlich über viele Jahre im Voraus. Auch mein Debüt an der Mailänder Scala wird zunächst eine singuläre Sonderstellung einnehmen, da mache ich mir keinerlei Illusionen.

Umso mehr freut es mich, dass für die nächsten Jahre, ähnlich wie am Opernhaus Frankfurt, eine regelmäßige Zusammenarbeit mit dem Stadttheater Bern und dem Berner Sinfonieorchester, der Volksoper Wien sowie der Opéra National du Rhin und dem Orchestre Philharmonique de Strasbourg geplant ist.

Ich danke Ihnen herzlich für dieses schöne und ausführliche Gespräch!


wallpaper-1019588
Me and the Alien MuMu – Trailer enthüllt neue Details zum Anime
wallpaper-1019588
AniMachon: Neuer Manga-Verlag gegründet + erste Lizenz
wallpaper-1019588
Hundefutter Empfehlungen: Finde das beste Futter für die Gesundheit Deines Hundes
wallpaper-1019588
Wie wichtig sind gemeinsame Mahlzeiten mit der Familie?