*Alle Namen geändert!
“Was ist denn nun schon wieder?”, will Schwester Margret wissen.
Die Schwesternschülerin läuft rot an, kommt ins stottern: “Also, also, ich …”
“Während der Schichtübergabe nur stören, wenn es unbedingt notwendig ist!”, faucht Schwester Margret. “Das solltest Du langsam mal wissen!”
“Schon gut”, mischt sich Schwester Anne ein und wendet sich verständnisvoll an die junge Frau. “Zimmer 14, stimmt`s?”
Die Schwesternschülerin nickt.
Schwester Anne seufzt ergeben und nickt Schwester Margret zu. “Ich mach das schon, aber danach bin ich weg, das schwör ich Dir!”
Während Schwester Anne sich auf den Weg macht, fragt Schwester Petra neugierig: “Wen haben wir denn in der 14?”
Schwester Sabine seufzt. “Rojanne”
“Oh nein!”, stöhnen die Schwestern, die zur Frühschicht gekommen sind.
“Oh doch!”, kommt es ein wenig schadenfroh von den anderen: Sie haben jetzt Feierabend und wer weiß, vielleicht ist Rojanne ja bis heute Abend schon wieder verschwunden?
Aber eigentlich sind sie gar nicht so richtig schadenfroh, sondern einfach nur traurig. Weil es traurig ist, Aber auch einfach mal verdammt zermürbend.
Und richtig: Kaum hat die Schicht von Schwesternschülerin Lia angefangen, klingelt es in einer Tour: Zimmer 14, Zimmer 14, Zimmer 14:
Rojanne hat Hunger. Das Essen schmeckt aber nicht, warum durfte sich Rojanne nichts zu essen ausssuchen? Morgen ist egal, sie will JETZT etwas Leckeres essen. Nein, eine Banane nicht! Oder *klingel* ja doch. Aber die Schale schmeißt sie auf die Erde und Durst hat sie auch.
Zwischendurch tauchen Assistenzärzte auf: Was mit der Zimmeraufteilung passiert wäre, es habe sich jemand beschwert?
Die Oberschwester deutet auf die Patientenakte: “Da können wir keine kritischen Fälle mit auf`s Zimmer lassen!”
Sie neigt ihre Stimme zum Flüstern: “Wenn da mal wirklich was los ist mit einem und wir zu spät reagieren … na, Sie wissen schon, weil sie eben dauernd klingelt …!”
Nicken, die Weißkittel rauschen ab. Nur die eine zögert, das ist die Frau Möllinger. Die ist neu hier, ist noch keine 3 Wochen da. Und hat Rojannes letzten Aufenthalt somit nur knapp verpasst.
“Die kommt alle 4-6 Wochen rein”, erklärt der Kollege und guckt traurig. “Schlimme Geschichte”
“Seit wann?” Die neue Kollegin will es genau wissen. Ob man anderweitig helfen kann?
Kopfschütteln.
“Wir verarzten sie, wenn es was zu verarzten gibt, machen Tests und schicken sie dann wieder zurück. Glaub mir: Die tun für sie, was sie können!” Auch die Kollegin fühlt sich nicht gut dabei. “Mehr können wir hier einfach nicht machen. Und ihr ein eben ein wenig unserer Aufmerksamkeit schenken”
“Im Rahmen unserer Möglichkeiten”, ergänzt Kollege Steger. Es klingt lieblos, aber wer ihn sieht weiß, dass er tut, was er kann.
Der Tag vergeht und Rojanne … kollabiert. Mehrfach. Erst im Zimmer. Dann, als ihre Bettnachbarn alle unterwegs sind, schleppt sie sich in den Flur. Bricht vor dem Schwesternzimmer zusammen.
Uriniert ins Bett.
Einmal, zweimal, dreimal.
Bekommt eine Windel um und bedankt sich mit einem erleichterten Lächeln.
Reißt sich den Zugang heraus.
Und wieder.
Und wieder.
Bis sie einen Joghurt bekommt, sie hat doch so einen Hunger!
Einfach danach zu fragen kam ihr nicht in den Sinn …
Besuch bekommt Rojanne am zweiten Tag. Vorher war einfach keine Zeit da: Eine Frau Anfang/Mitte Vierzig, drei Kinder zwischen 8 und 14 Jahren im Schlepptau.
Sie muss dann wieder los, noch ein Kind von sonst wo abholen.
Rojanne bleibt zurück. Nichtmal zu einem Besuch in der Cafeteria hat es gereicht.
Starrer Blick aus dem Fenster. Stumpf, apathisch, still. Aber man hört es denken.
Der Aufstand ist da. Man sieht ihn erst, wenn es zu spät ist:
Rojanne bricht zusammen, als ihre Bettnachbarin Besuch bekommt.
Rojanne zetert und schimpft, dass alle weggucken sollen, als sie sich umziehen will.
Rojanne dreht während ihre Zimmergenossen Besuch haben den Fernseher auf volle Lautstärke.
Als einer weint vor Schmerzen, schimpft sie ihn “Memme”, “Weichei” und “Scheißkuh”.
Rojanne führt laut Selbstgespräche. Darüber, wie traurig sie ist, dass sie sich keinen Kuchen kaufen kann. Solange, bis der Besuch ihr im Krankenhauskiosk welchen kauft.
Den Kuchen, den ihr die Schwestern gebracht haben, hat sie weggeschmissen.
Nachts muss bei Rojanne per Pulsoxymetrie die Sauerstoffsättigung kontrolliert werden. Mehr zur Vorsicht, mehr, um überhaupt etwas zu machen, als aus medizinischer Notwendigkeit heraus. Ihr das Gefühl geben, sich zu kümmern, das wollen die Ärzte und Schwestern gemeinsam erreichen. Aber entweder, sie erreichen Rojanne nicht, oder es reicht ihr nicht. Denn irgendwann während der Schlafenszeit reicht es ihr und sie beginnt ein neues Spiel: Sie reißt sich den Clip vom Finger, verfolgt, lauert, wartet bis der Monitor ein Alarmsignal sendet: *PIEPPIEPPIEP**PIEPPIEPPIEP**
Dann steckt sie sich den Clip wieder blitzschnell über den Fingern legt sich hin, leicht atemlos, tut, als würde sie schlafen.
Aus dem Schlaf geschreckt die Zimmergenossen, schnell die Schwester, alle drei Male. Ärztin. Erneut dreimal.
Danach kommt die Schwester nicht mehr ganz so schnell, wenn es in Zimmer 14 piept …
Am nächsten Morgen Krisensitzung im Schwesternzimmer, die neue Assistenzärztin hat es angeleiert. Und irgendwie sind auch alle ganz froh darüber. Man redet kurz, aber hitzig. Diskutiert, überlegt Maßnahmen. Will helfen.
Will einfach MEHR tun. Fasst Entschlüsse. Zittrig vorgetragen vor der Oberarztvisite.
Der Oberarzt senkt den Kopf.
Auch er möchte helfen, mehr tun. “Aber … wir können einfach nicht, verstehen Sie? Ihr Engagement in allen Ehren Frau Möllinger, aber … es fehlt uns einfach an Personal für sowas, verstehen Sie? So leid es mir tut … Wir tun, was wir tun können, und dann schicken wir Rojanne wieder nach Hause, haben Sie verstanden?”
Frau Möllinger nickt. Sie versteht tatsächlich, kennt von ihrem Vater den Kampf um Personal und Krankenhausgelder. Kennt den Papierstapel, der auf sie wartet. Ist im Dauerstreß, arbeitet von der Morgendämmerung bis zur Abenddunkelheit, hat kaum Zeit, mittags zu essen, schlingt nur herunter, was die Kantine grade da hat, so viel sie schafft, bis das Diensthandy wieder klingelt, und verbringt die dienstfreien Samstage in Supermärkten und im Waschsalon. Fragt sich schon lange, wann, wo und wie sie einen Mann kennenlernen soll. Weiß auch nicht weiter, kann nicht mehr geben, als sie gibt und denkt doch, es wäre nicht genug …
Die Putzfrau indes schimpft und schimpft: Dreckiges Geschirr rund ums Bett einfach auf den Boden gestellt, Bananenschale, weitere Essensreste auf dem Boden, dem Nachtschränkchen, im Bett.
Die Windel voll und ausgelaufen.
Holt eine Schwester, die beschliesst: “Zeit für ein Bad!”
Rojanne lächelt.
Als sie wiederkommt, ist alles wieder blitzefein.
Die Schwester lächelt sie gezwungen an, deckt sie zu.
Im Schwesternzimmer geht es um: Rojanne wird am nächsten Tag entlassen, sobald der Arztbrief fertig ist. Das kann Abend werden, aber das schaffen wir auch noch!
Sofort wieder ein schlechtes Gewissen.
Sie alle mögen Rojanne, jeder auf seine Art.
Aber es ist so anstrengend! Und man hat ja auch noch so viele andere Patienten …!
Schlechtes Gewissen: Sie kann doch nichts dafür!
Heute ist jede Schwester noch einmal ganz besonders nett zu Rojanne. Und denkt sich insgeheim, ob das nicht ein Fehler ist. Aber Rojanne ist, wie sie ist.
Und die Schwestern lieben ihren Beruf und ihre Patienten und wollen doch so gerne helfen!
Also sind sie heute noch einmal besonders nett zu Rojanne.
Als die wieder mit Absicht ins Bett macht.
Das Essen in den Müll schmeißt, und kurz darauf neues verlangt.
Als sie den ganzen Tag über behauptet, sich andauernd übergeben zu haben – obschon die Zimmerkameraden dies verneinen.
Klingelt, damit jemand das Rollo ein Stück herunterlässt.
Die Besucher der Zimmerkameraden anschnorrt.
Vor den Augen anderer einen Zusammenbruch simuliert.
Vor jeder Untersuchung ein Drama und Theater macht und fragt, was sie dafür bekommt.
Nachts hundert Mal das Pulsmessgerätabrupfspiel spielt.
In andere Zimmer geht und dort Sachen klaut.
Wieder die Teetasse umwirft und die Schwestern aufwischen lässt.
Und drei-, viermal schreiend aus dem Schlaf aufschreckt. Aber das ist vielleicht gar nicht gespielt.
Als sie sich den Daumen in den Mund steckt und endlich schläft.
Man könnte fast auf den Gedanken kommen, Rojanne zur Rede zu stellen und anzuschreien, was verdammt nochmal mit ihr los sei!!!!!!????
Aber das muss man gar nicht; man kann sie auch ganz einfach fragen.
Und dann erzählt sie erstaunlich freimütig und irgendwie gelangweilt, fast wie einstudiert: “Ich bin Rojanne und ich bin vierzehn Jahre alt und ich wohne in einer Wohngruppe!”
Und wenn man dann schluckt und sich diverse Horrorszenarien vorgestellt hat und sich dann traut, einfach ganz vorsichtig zu fragen, warum, dann zuckt Rojanne mit den Schultern, knabbert an ihren abgebissenen Fingernägeln und antwortet: “Ich wohne in einer Wohngruppe, also, seit einem Jahr, also ich wohne da, weil mein Papa hat mich immer gehauen. Ins Gesicht und in den Magen geboxt und so. Und hat mir immer gesagt, wie fett und scheiße ich bin”
Tonlos: “Und Deine Mama?”
“Entweder, die hat ihren Wodka da und dann ist ihr das egal, oder sie hat Kopfweh und dann soll ich still sein!”
Und wenn man dann wie erstarrt ist und Frosteistränen darauf warten, dass man sie rausschreit, fügt Rojanne noch hinzu: “Gestern Nacht habe ich wieder geträumt, dass Mama und Papa mich nicht liebhaben und mich nie wiederhaben wollen. Meinst Du, das stimmt?”
Soundtrack: Suzanne Vega, Luka
Rojanne wurde vor über einem Jahr vom Jugendamt aus ihrer “Familie” rausgeholt, nachdem Nachbarn und Lehrer Meldung gemacht hatten. Haben sie in einer Wohngruppe untergebracht. Wo Rojanne ein normales soziales Leben lernen soll. Geliebt und psychologisch betreut wird.
Rojannes Rettung hat gerade erst begonnen.
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