Rohstoff Angst – Kapitalismus und Depression


„Jede Zeit hat ihre Krankheiten. So gab es Phasen, die durch virale oder bakterielle Infektionen gekennzeichnet waren. Zumindest in Europa und der westlichen Welt bestimmen – nicht zuletzt durch verbesserte Lebensbedingungen und geeignete Medikamente – diese Krankheiten nicht mehr den Alltag. Das 21. Jahrhundert scheint, pathologisch betrachtet, neuronal bestimmt zu sein: Depression, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom), Borderline-Persönlichkeitsstörung, Burnout- Syndrom usw. usw. Nicht Infektionen, keine biologischen Erkrankungen, sondern seelische Zusammenbrüche, „psychische Infarkte“ markieren zusehends die pathologische Landschaft unserer Zeit.

Ganz oben steht die Depression. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird sie in nur zehn Jahren die zweithäufigste Volkskrankheit sein. In Deutschland sind derzeit 5,8 Millionen Menschen betroffen. Das sind sechs Prozent der Bevölkerung, die stationär behandelt werden müssen. Ihre Zahl hat sich in den letzten zwanzig Jahren mehr als verdoppelt. Als Gründe für die Zunahme werden wachsende berufliche Leistungs- und Flexibilitätsanforderungen sowie unterbrochene Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitslosigkeit genannt.

Volkskrankheit Depression

Ob Führungskraft oder Geringverdiener, selbst ernannte Leistungselite oder sogenanntes „Prekariat“, ob Workaholic oder erwerbslos – die Depression mäandert durch alle Altersgruppen, Bildungsschichten und Gehaltsklassen. Für die Pharma- und Wellnessindustrie, für Psychotherapeuten, Ratgeberschreiber oder andere Experten für die Seele ist das gewiss ein lukratives Geschäft. Doch allmählich wird es zu teuer, wie den Klagen von Unternehmen wegen  Arbeitsausfällen oder den periodisch erscheinenden Krankenkassenberichten zu entnehmen ist. Die soziale Frage wird dabei weitgehend vermieden. Wer aber die falschen Fragen stellt, bekommt – wenn nicht gerade falsche – so doch unzulängliche Antworten.

Sind die psychischen Symptome der klinisch Behandlungsbedürftigen das Resultat ihrer individuellen Lebenssituation? Handelt es sich bei den Betroffenen nur um bedauerliche Einzelfälle? Oder geben die Erkrankungen Auskunft über den Zustand der Gesellschaft? Vieles deutet darauf hin, in der Depression, insbesondere der Erschöpfungsdepression, dem Burnout-Syndrom, eine psychische Manifestation unserer pervertierten „Kultur“ zu sehen, die den Wert des Subjektes mehr denn je ausschließlich an seinem „Marktwert“ misst und als Diktum in Köpfe und Seelen hämmert, bis sie kollabieren. Die totale Ökonomisierung aller Lebensbereiche zeigt hier ihre verborgene destruktive Kehrseite: Das „flexible Selbst“ (Richard Sennett) mutiert zum immer „erschöpfteren Selbst“.

Freiheit zur Selbstausbeutung

In diesem Sinne ist die Depression Ausdruck und Spiegel der Pathologie einer Gesellschaft, die sich selbst zerstört, indem sie ihre humanen – neben allen anderen – Ressourcen verschwendet, verbraucht und wegwirft. Freiheit und Zwang sind zu Synonymen geworden. Nennt man es nun „freiwillige“ Zwangsverpflichtung oder aufgezwungenes und nie eingelöstes „Freiheits“-Versprechen. Das Ergebnis ist dasselbe: Ausbeutung. Und effizienter als jede Fremdausbeutung ist es für den neoliberalen Kapitalismus allemal, wenn seine modernen Arbeitssklaven selbst für die Ausbeutung sorgen, wenn auch flankiert und versüßt von der Illusion der Freiheit und Individualität, der Magie vom „guten“ Leben.

„Es hat nie in der Geschichte eine so enge, dürftige, offizielle Definition des Menschen gegeben wie hier: abgemagert, um seine Potenziale, seine Fähigkeiten gebracht“, schreibt der Sozialphilosoph Oskar Negt. „Er soll sich nicht ausruhen (…), Muße und Mußefähigkeit entwickeln, sondern (…) flexibel sein, vergessen, was er gestern gedacht hat. Gegen diesen Aberwitz eines manipulierbaren, jedes Eigensinns beraubten und allseits verfügbaren Menschen entschieden Einspruch zu erheben, das wäre einer breiten Kulturoffensive wert.“

Die wird wohl noch etwas auf sich warten lassen in Deutschland. Bis dahin jedoch wird die Zahl der neuronalen Erkrankungen weiter ansteigen; der Gesundheitsmarkt boomen und die Verkaufszahlen der Ratgeberliteratur weiter steigen; und Ministerien oder andere Behörden werden vielleicht noch „sorgfältiger“ ihre Studien in Auftrag geben, Statistiken frisieren und Verhältnisse schönreden. Oder anders: Wer sich mit dieser Welt im Einklang wähnt, sich in ihr aufgehoben, zufrieden, gar frei fühlt, muss geisteskrank sein.“

Quelle und gesamter Text: http://www.hintergrund.de/201307152697/feuilleton/zeitfragen/rohstoff-angst-kapitalismus-und-depression.html


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