Robin Rhode in Wolfsburg: Memory is the Weapon, bis 9.2. 2020

Von Helge

Robin Rhode in Wolfsburg: Memory is the Weapon, bis 9.2. 2020

Robin Rhode im Kunstmuseum Wolfsburg: Ein Mann versucht vergeblich, auf sein Fahrrad zu steigen. Es kann nicht gelingen, das Fahrrad ist mit Kreide auf eine Mauer gezeichnet.
Wie ist es möglich, performative Kunst in einem Museum auszustellen? Der flüchtige Augenblick einer Performance kann nur durch Dokumentation nachträglich vermittelt werden - wobei sich dann sofort die Frage stellt: welches ist das Original, die Aktion selbst oder ihre Dokumentation? Derartige Fragen können einem kommen während der Besichtigung der Ausstellungsstücke des Südafrikaners Robin Rhode (geb. 1976 in Kapstadt, in Johannesburg aufgewachsen, seit 2002 in Berlin lebend) im Kunstmuseum Wolfsburg. Das einfache Beispiel mit dem Fahrrad auf der Mauer sagt schon sehr viel über die Besonderheiten seiner Kunst. Es zeigt aber auch, dass es diesem Künstler gelingt, solche Fragestellungen zu durchbrechen: Hier können nur die dokumentierenden Filmbilder oder Diasec-Drucke das Werk wie ein Original umfassend vermitteln, denn auch bei einer Performance wird kein Mensch das Fahrrad besteigen und losradeln können. Und beide Präsentationsformen können denselben soziokulturellen Denkanstoß bewirken, kurz gesagt: Kann sich jede, jeder ein richtiges Fahrrad leisten?

So vielseitig er in seinem künstlerischen Ausdruck ist - Robin Rhode "bleibt dem Alleinstellungsmerkmal seines multimedialen Werkes treu: der spannungsvollen Kombination aus Linie, Körper und der Wand als Bildträger. Schritt für Schritt entwickelt und verlebendigt er die Linie durch die performative Interaktion mit dem Körper, bis sie eine abstrakte Form oder ein Objekt definiert. Sein Markenzeichen ist die Wand, die für ihn in den letzten acht Jahren in einem sozialen Brennpunktviertel in Johannesburg stand ... Im Gegensatz zur Street-Art und Graffitikunst geht es ihm ... nicht darum, was er im urbanen Kontext zurücklässt, sondern um den Prozess. Das Kunstwerk ist die fotografische Dokumentation der Entstehungsphasen seiner Narrative" (seiner sinnstiftenden Erzählungen). Das ist beachtenwert, denn Rhode verzichtet damit bewusst auf den Vorrang des materiellen Ertrags, denn es entsteht kein Einzelwerk, das sich mit hohem Gewinn von einer Galerie verkaufen oder auf einer Auktion versteigern lässt.

Durch die Verbindung von Linie, Körper und Wand / Mauer entsteht eine Dreidimensionalität, die einer möglichen (metaphorischen) vierten Dimension vorausgeht (dem soziokulturellen Zusammenhang). Dazu ein weiteres Beispiel, das als Auftragsarbeit des Kunstmuseums Wolfsburg in Jericho entstanden ist - wobei ich hier aus der Vierer-Serie von C-Prints das erste und das letzte Bild zeige. Das Narrativ: Eine Frau mit Hijab versucht bei vollem Körpereinsatz einen riesigen Polyeder mit einer Steinschleuder zu bewegen, der Albrecht Dürers Melencolia I von 1514 entnommen ist (s. Wikipedia).



Leider wird über solche Hintergründe in der Ausstellung nicht informiert, darin zeigt sich ein Mangel der Präsentation in Wolfsburg: Wie soll ich das wissen, dass das räumliche Objekt der Steinschleuder Dürers Kupferstich entnommen ist? Keine Erläuterung durch Informationstafeln o.ä., und auch im Katalog habe ich Mühe, die Informationen zusammenzusuchen. Sie finden sich auf S. 28-29. Ich zitiere sie hier, wiederum als Beispiel gedacht:
Robin Rhode vereint "auf einer Wand, die ihre Geschichte offen zur Schau trägt, in Melancholia eine verschleierte »Muslimin«, eine Steinschleuder als eine für den Nahostkonflikt typische Waffe, einen Polyeder als Wurfgeschoss sowie die in Jericho allgegenwärtigen Wassertanks und Palmen als klare Indikatoren des Ortes. Das Geschoss entnimmt er wiederum dem christlichen Kontext, denn es handelt sich um eine exakte Nachempfindung des Polyeders in Albrecht Dürers Stich Melencolia I von 1514. Die Wahl einer Frau als Performerin gibt dem Werk eine weitere inhaltliche Dimension, ist ihre körperliche Anstrengung in ihrem bedeutsamen Kampf mit dem Gewicht des Polyeders doch förmlich zu spüren."

Haben Sie schon einmal mit einem Stuhl gezeichnet? Oder mit dem eigenen Körper? In Wolfsburg könnten Sie es in einem Raum ausprobieren, wenn es nicht in einem Museum wäre ... Das ist eine zweite Form der Präsentation eines performativen Kunstwerks: Ein Raum wird so hergerichtet, als habe hier gerade eine Performance stattgefunden. Ein Drehstuhl, weitere Stühle, eine Trittleiter, eine Drahtmatte, ein Garderobenständer, die mit Ölkreide eingeschwärzt wurden, sind an Seilen so aufgehängt, dass sie beim Pendeln auf Wänden oder Boden eine Zeichnung hinterlassen können; hinzu kommt eine Badewanne, die mit einer schwarzen Flüssigkeit gefüllt ist. Leider gibt die folgende Installationsansicht nur einen Ausschnitt wieder:


"Memory is the Weapon" (Erinnerung ist die Waffe) - der Ausstellungstitel ist der Autobiografie des Dichters und Anti-Apartheid-Aktivisten Don Mattera (geb. 1935) entnommen. Die Verse lauten, übersetzt: "Bedeckt vom / Staub der Niederlage - / so dachten es sich jedenfalls / die Eroberer. // Doch vor der Erinnerung / kann nichts verborgen werden. // Nichts, das die Erinnerung / nicht erreichen // oder berühren oder / zurückführen kann. // Die Erinnerung ist eine Waffe." (Anmerkung von mir: "Memory" hat auch die Bedeutung von Gedächtnis. In der 2. Strophe heißt es im Original "But there is nothing that can / be hidden from mind" - mind hat auch die Bedeutung von Bewusstsein.)
Ich zitiere wiederum aus einem Pressetext: "Der Blick zurück ergibt sich für ihn schon allein aus seiner Biografie, denn seit 2002 lebt er in Berlin. Trotz der räumlichen Distanz spielen die Geschichte und die Gegenwart Südafrikas für ihn nach wie vor eine entscheidende Rolle. Die Erinnerung ist für ihn sowie für den Dichter Don Mattera (*1935) ... eine metaphorische Waffe, die der Auseinandersetzung mit hybrider Identität dient. (Hybride Identität bedeutet, dass ein Mensch sich zwei oder mehreren kulturellen Räumen gleichermaßen zugehörig fühlt, Anm. des Blogautors). So verhandeln die ausgestellten Werke Robin Rhodes nicht nur offenkundige Themen wie Sport, Musik, Design, Geometrie, Farbenlehre und Religion, sondern auch sozialpolitische Aspekte, wie insbesondere die Geschichte der "Coloured Communitys" in Südafrika, die Robin Rhode nicht zuletzt auch aufgrund seiner eigenen Familiengeschichte ein besonderes Anliegen ist. Seine Bildsprache und -inhalte sind ein konzeptueller Spagat zwischen südafrikanischer Geschichte, Kultur, Mentalität sowie ihren Zeichen und Codes und dem visuellen Vokabular der europäisch-amerikanischen Moderne ... Robin Rhode reduziert komplexe, bisweilen auch gesellschaftskritische oder -analytische Inhalte auf wenige visuelle Zeichen oder, wie er es ausdrückt, er vereinfacht das Chaos mit den Mitteln der Kunst."

Die beste Möglichkeit, performative Kunst in einem Museum zu präsentieren, ist natürlich, eine Performance tatsächlich stattfinden zu lassen. Bei der Pressekonferenz und der Eröffnung haben Maxime Scheepers und Kevin Narain eine Live-Performance mit dem Titel "Fate of Destiny (Macht des Schicksals)" ausgeführt. Ob während der Dauer der Ausstellung immer wieder Performances durchgeführt werden - wäre doch sinnvoll -, darüber habe ich keine Informationen.
Die Performance war sehr überzeugend, vielseitig (mit Sprache und Gesang) und sehr berührend. Das Bild kann natürlich nur einen kleinen Eindruck vermitteln.


Der Katalog enthält etliche weitere Bilder und alle Verse. Das Gerüst, in dem die beiden Künstler*innen ihre Mischung aus Akrobatik, Tanz, Rezitation und Gesang zeigen, ist aus Metallteilen zusammengesetzt, die Robin Rhode auf einem Schrottplatz in Johannesburg gefunden hat.
Robin Rhode sagt im Interview (Katalog S. 130): "Ich habe diese Performance auf der Grundlage einer Oper entwickelt - Die Macht des Schicksals (La forza del destino) von Guiseppe Verdi und Francesco Maria Piave aus dem Jahr 1862. Ich habe an zwei Figuren gearbeitet, zwei Liebende, die durch die Umstände voneinander getrennt wurden, und habe versucht, für sie ein Bühnenbild zu kreieren. Ich dachte, dass diese Performance im Innenraum von zwei Autos stattfinden könnte, die aufeinander geprallt sind. Die Idee, ein Schrottauto zu recyceln, führte mich auf diesen Schrottplatz in Johannesburg. Ich bin mir der Tatsache sehr bewusst, dass man manchmal etwas sucht und dann tatsächlich etwas findet, das besser ist als das, wonach man gesucht hat. Ich habe einen Blick auf das Dach der Schrotthalle geworfen, und dort habe ich diese rostigen Klettergerüste von alten Spielplätzen gesehen ..."
Ich zitiere aus den Versen, die in der Performance vorgetragen oder gesungen werden. Von James Matthews, 1972: "what happens to / the people of the township / in cement cages / they've been placed / their love turns cold / in the fire of frustration / they turn upon each other" (frei übersetzt: was geschieht / mit den Menschen der Townships / in den Zementkäfigen / in denen sie zusammengeschart wurden / ihre Liebe erkaltet / im Feuer der Frustration / sie fallen übereinander her). Von Gladys Thomas, 1972: "A beautiful land / With beautiful mountains / And beautiful seas / But not for me ... Soon the night will come / We will have our land / Our mountains / And our seas / And the animal will be out of me / For then I will be free" (übersetzt: Ein wunderschönes Land / mit wunderschönen Bergen / Und wunderschönen Meeren / Aber nicht für mich ... Bald kommt der Abend / Und wir werden unser Land haben / Unsere Berge / Und unsere Meere / Und das gierige Tier wird es nur noch jenseits von mir geben / Denn ich bin dann frei ).

Ich weise noch auf ein weiteres Werk hin, dass mich ästhetisch besonders angesprochen hat - und gebe wieder nur das erste und das letzte Bild wieder. "Twilight" ist der Titel.



Robin Rhode äußert sich dazu im Interview (Katalog S. 71):
"Meine Arbeit Twilight ... ist zum Teil von Mattera inspiriert, der dieses Wort als Metapher für Menschen verwendet, die in der Politik Südafrikas als »Coloured« klassifiziert werden, als Menschen, die in der Grauzone zwischen Schwarz und Weiß, Tag und Nacht leben, die im Hinblick auf die rassische Klassifikation und Politik der Apartheid physisch und psychologisch nicht eindeutig bestimmbar sind ... Die Feder in dieser Arbeit dient als eine Art Barometer oder Uhrzeiger, der sich von der Morgendämmerung über den Mittag bis zum Abend bewegt. In diesem Fall dient die Feder auch als klassisches Schreibgerät, als Federkiel, mit dem man schreiben oder zeichnen kann ... Die violette Kapuzenjacke, die die Figur in dieser Arbeit trägt, zitiert die lässige Straßenmode und die Street Culture, verbirgt aber zugleich die Identität dieser Figur. Die symbolische Verwendung der Farbe des Hoodies hat auch spirituelle Untertöne -- eine Form von Katholizismus und Königtum. Die Körperhaltungen der Person, die an Yoga erinnern, beziehen sich genauso auf die Straße als Ort für Interventionen, wo man Ideen ausprobieren und neu erfinden kann."

Zwölf Jahre nach seiner ersten und bisher einzigen musealen Einzelausstellung in Deutschland zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg mit rund fünfzig Arbeiten den bisher umfassendsten Überblick über Robin Rhodes Werk. In Wolfsburg dauert die Ausstellung bis zum 9. Februar 2020; danach wird sie in der Kunsthalle Krems gezeigt.

Ich empfehle den Besuch der Ausstellung, weil sie auf lebendige Weise einen nachwirkenden Eindruck von einem engagierten performativen Künstler aus Südafrika vermittelt, der seine Botschaften mit dem nötigen Ernst, aber auch mit Humor und Pfiff zum Ausdruck bringt.

Text: Dr. Helge Mücke, Hannover, mit Zitaten aus Presse- und Katalogtexten (Hervorhebungen von mir). Bilder von oben nach unten:  Robin Rhode: CLASSIC BIKE 2002, 12 Diasecs, each: 29,8 x 45,7 cm © Courtesy: The Artist; Robin Rhode:MELANCHOLIA 2019, 4 C - Prints,each: 54,6 x 72,6 cm © Courtesy: The Artist; Blick in die Ausstellung Robin Rhode. Memory Is The Weapon,Kunstmuseum Wolfsburg,28.09.2019 - 09.02.2020 © Courtesy: The Artist; Szenenbild der Performance "Fate of Destiny", Foto: © Marek Kruszewski; Robin Rhode: TWILIGHT 2012, 8 individual C - prints, each: 41.59 cm x 61.59 cm (framed) © Courtesy: The Artist.