Gespräche zwischen Roberto Saviano und Giovanni di Lorenzo
„Was ist denn der Unterschied zwischen Gesetz und Regel?“ [Giovanni di Lorenzo] „Das Gesetz ist für alle gleich, das heißt, im Krankenhaus müsste derjenige als Erster behandelt werden, der es am meisten benötigt. >In der Regel< aber wird der als Erster behandelt, der – wenn’s gut läuft – die besseren Beziehungen hat und – wenn’s schlecht läuft – das höhere Bestechungsgeld zahlen kann.“ [Roberto Saviano]
In diesen zwei Sätzen bringt Roberto Saviano eine Eigenheit Italiens auf den Punkt. In Erklär mir Italien habe ich recht hohe Erwartungen gehabt. Allerdings ging ich nicht unbedingt davon aus, Erklärungen zu finden, die mich dieses Land auf eine andere Weise verstehen lassen. Vielmehr war ich darauf gespannt, ob Saviano und di Lorenzo meine Sichtweise auf Italien bestätigen.
Wie kann man nur Berlusconi wählen?
Meine Familie väterlicherseits stammt aus dem Süden Siziliens, also Süditalien „to the max“. Da ich meine Kindheit zum größten Teil innerhalb der sizilianischen Großfamilie verbracht habe, bin ich durch die Werte und die Kultur Süditaliens geprägt worden, auch wenn ich mich heute nicht fest innerhalb einer Nationalität verorten möchte. Trotzdem fühle ich eine gewisse Verbundenheit zum Heimatland meines Vaters. Als Halbitaliener wurde ich bereits in der Schulzeit stets als Italiener gesehen, nie als Deutscher. So musste ich etwa meine „Landsleute“ erklären, als sie erneut Berlusconi zum Ministerpräsidenten wählten. Dabei konnte ich das selbst nicht nachvollziehen. Doch auch auf die Frage, wie solch ein Mann, der europaweit als eine Art Clown gesehen wird, der sich Gesetze so zurechtbiegt, dass sie ihm selbst nicht mehr schaden können, zum Lenker eines Landes mit einer jahrtausendealten Kulturgeschichte werden kann, gibt es eine Antwort. Die Antwort findet sich in eben diesen zwei zitierten Sätzen von Roberto Saviano. Berlusconi vermochte es geschickt, sich als Opfer von Justiz und einer intellektuellen Elite zu stilisieren. Trotz all der vermeintlichen Steine, die ihm in den Weg gelegt wurden, schaffte dieser Mann es erfolgreich zu sein. Und das geht eben manchmal nur, wenn man sich ein wenig über das Gesetz stellt. Darüber hinaus bietet Berlusconi seinen Anhängern Identifikationspotenzial. „Berlusconi hat, wie die meisten populistischen Politiker, zu den Wählern gesagt: ‚Du bist schon in Ordnung, so wie du bist!‘ [Er] hat jahrelang die Botschaft verkündet: Natürlich gibt es Gesetze, aber wenn wir wollen, dass es uns besser geht, müssen wir sie ein wenig zurechtbiegen“, so Saviano.
Der italienische Umgang mit der faschistischen Vergangenheit
In Deutschland ist es absolut inakzeptabel, die NS-Vergangenheit zu verharmlosen, zu relativieren oder gar zu verherrlichen. Italien hat bekanntlich ebenfalls eine faschistische Vergangenheit, doch ist der Umgang mit ihr und dem Diktator Mussolini oftmals lockerer als hierzulande. Woran liegt das? Schließlich sind den italienischen Faschisten zahlreiche politische Gegner zum Opfer gefallen, es gab Rassegesetze, Angriffs- und Eroberungskriege, und auch an den Judendeportationen hat sich das Regime beteiligt. Di Lorenzo meint, man könne sich scheinbar in Italien erstaunlich leicht vom Faschismus reinwaschen, während in Deutschland aufgedeckte Berührungspunkte mit dem Nationalsozialismus – wie etwa die Waffen-SS-Mitgliedschaft von Günther Grass – kaum verziehen werden. Einen Grund hierfür sieht Saviano in dem nicht existenten Gefühl einer Kollektivschuld in Italien. Im Gegensatz zu Deutschland gab es dort „einen bewaffneten Widerstand, einen Freiheitskampf“. Heute sei jedoch der Faschismus in Italien wieder salonfähig geworden, so dass es einige Gruppen gibt, die sich offen neo-faschistisch nennen.
Ein düsteres Bild
Während man in den Kapiteln des in Dialogform geschriebenen Buches voranschreitet, fragt man sich zwangsläufig: „Ist das wirklich das Italien, das ich zu kennen geglaubt habe?“ Ein Land, in dem es sich nicht lohnt, sich politisch zu engagieren, das lieber ein Schlitzohr zum Staatschef macht als jemanden, der sich strikt ans Gesetz hält? Zum Teil möchte ich darauf antworten. Denn natürlich muss man hier auch über Korruption, über die Mafia und über zum Teil chaotische Zustände sprechen. Aber sich fast ausschließlich darauf zu konzentrieren, wird diesem Land nicht gerecht. Positive Entwicklungen wie etwa die Wiederbelebung der kalabrischen Kleinstadt Riace durch Immigranten kommen hier etwas zu kurz. Dass Savianos Sicht auf sein Land getrübt ist, lässt sich absolut nachvollziehen. Schließlich lebt er seit seinem Weltbestseller Gomorrah unter Polizeischutz an wechselnden Orten. Daher hätte ich etwas mehr von di Lorenzo erwartet, der sich jedoch hauptsächlich auf die Rolle des Fragenden beschränkt. Nichtsdestotrotz ist Erklär mir Italien! ein lesenswertes Buch, das so manche Einblicke insbesondere in die süditalienische Mentalität und die im Süden herrschenden Verhältnisse beschert.
Roberto Saviano / Giovanni di Lorenzo
Erklär mir Italien!
Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?
Kiepenheuer&Witsch
272 Seiten
20,00 EUR