Risse im G8-Fundament

Von Herbert Danziger
Im aktuellen Tagesspiegel schreibt Marion Rück-Raab, dass das achtjährige Gymnasium - G8 - sich inzwischen bundesweit in der Kritik befindet und immer mehr Länder eine Rückkehr zu G9 überlegen oder alternativ das G9 an größeren Schulen anbieten. Immer wieder wird die extrem hohe Arbeitsbelastung angebracht, die G8 mit sich bringt - 40-Stunden-Wochen für die Schüler, beispielsweise. Selbstverständlich wurden auch einige gute Aspekte im Rahmen der G8-Reformen eingeführt, die man nicht zu kurz kommen lassen sollte, etwa die Profilwahl zum Ende von Klasse 7 oder die Reduzierung der Test auf vier bzw. zwei pro Schuljahr und die Stärkung von anderen Leistungsbeurteilungen wie den GFS (die praktisch alles sein kann, aber vom Aufwand her einem Test entsprechen muss). Problematisch bleibt aber die gewaltige Stoffmenge, die G8 den Schülern aufbürdet. Denn der Stoff, der vorher in neun Schuljahren bewältigt werden musste steht nun größtenteils ungekürzt in acht Schuljahren an. Dies führt zu einigen Effekten, an denen bereits seit mehreren Jahren herumgedoktort wird, ohne dass ein Durchbruch hätte erzielt werden können - was kaum verwundert, ist doch die Grundidee mit einigen entschiedenen Makeln behaftet. 
Am offensichtlichsten und einschneidensten ist das in der so genannten Orientierungsstufe zu sehen, also in den Klassen 5 und 6. Hier ist die Arbeitsbelastung verglichen mit dem G9 am krassesten gestiegen, sind die Anforderungen besonders hoch. Grundsätzlich ist die Idee des bildungspolitischen Konzepts, dass innerhalb dieser beiden Klassen fließende Wechsel zwischen den Schulformen möglich sein sollen, sofern sich herausstellt, dass ein Schüler für eine bestimmte Schulform nicht geeignet ist - zu schlecht fürs Gymnasium, zu gut für die Hauptschule, etc. In der Praxis aber sorgt eine weitere Großreform der vergangenen Jahre hier für entscheidende Probleme - die so genannte Schulentwicklung. In deren Rahmen soll jede Schule ihr eigenes, individuelles Profil mit Schwerpunkten entwickeln - keine starren Lehrpläne mehr, stattdessen im Kollegium abgesprochene, indidividuelle Schulcurricula. Das führt dazu, dass Wechsel oftmals kaum innerhalb des gleichen Schultyps möglich sind, ist es doch beispielsweise den Schulen völlig freigestellt, ob sie in Klasse 5 oder 6 die zweite Fremdsprache einführen oder ob sie drei oder fünf Stunden Englisch die Woche geben. Noch viel krasser wirkt sich das entsprechend zwischen den Schulformen aus - hat ein Gymnasium etwa die zweite Fremdsprache ab der fünften Klasse, kann ein Realschüler, der nach der fünften Klasse brillante Noten hat nur schwer wechseln, weil das komplette erste Jahr der Sprache fehlen würde. Solche Probleme entstehen permanent. 
Dazu kommt, dass die Stofffülle der Orientierungsstufe viele Schüler, besonders wenn sie keine große Unterstützung durch Eltern und/oder Nachhilfe haben, vor große Probleme stellt. Die Bildungspolitik versucht das zwar durch schulinterne Nachhilfestunden auszugleichen, aber das Budget ist viel zu niedrig, um einen ernsthaften Effekt haben zu können und ist zudem pädagogisch noch äußerst unausgegoren. G8 führt, bei allen möglicherweise guten Intentionen, vor allem zu einer brutalen Auslese. Viele meiner ehemaligen Kollegen denken auch entsprechend. Das Herausprüfen von Kindern, die "nicht hergehören" ist im G8 noch viel leichter geworden als im G9 und geradezu systemimmanent. Wer dem Druck nicht standhält, der muss gehen. Der Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung, die dafür sorgt dass Kinder unabhängig von ihren Leistungen am Gymnasium angemeldet werden können, ist in Verbindung mit einer breiten Unsicherheit über die Anforderungen von G8, die sich außerdem laufend ändern, potenziell toxisch. Das Gymnasium wurde durch G8 zu einer Auslesefabrik, die der Fortschreibung sozialer Verhältnisse dient. Die Reform gehört zurückgedreht.
Herbert Danziger war jahrelang Gymnasiallehrer in Baden-Württemberg und ist seit kurzem im Ruhestand.

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