Rip Van Winkle stieg wohl zwanzig Jahre nach seinem Verschwinden die Kaatskill-Berge herab. Er hatte so lange geschlafen. Als Untertan des englischen Königs ging er hinauf, als Bürger einer Republik kam er herunter. Vieles hatte sich verändert, nicht zuletzt »das ganze Wesen der Leute [...] Es herrschte ein geschäftiger, gehetzter, streitender Ton unter ihnen statt der gewohnten Gelassenheit und trägen Gemütsruhe«. Wie hatte sich die Welt am Hudson River in so kurzer Zeit doch verwandelt.
Täte es mein Vater diesem Gestalt aus Washington Irvings Kurzgeschichte von 1819 gleich - übrigens gilt »Rip Van Winkle« als die erste Short Story der amerikanischen Literatur -, entstieg er nach 15 unterirdischen Jahren seinem Grab? Es müsste wohl ein Kulturschock sein. Müsste man ihm gleich der komatöse Mutter aus »Goodbye Lenin« oder dem eingefrorenen Schwiegergroßvater aus »Hibernatus« (dem Funès-Film gab man in Deutschland den infantilen Titel »Onkel Paul, die große Pflaume«) eine Abziehbild der Welt von Ende der Neunzigerjahre simulieren? Zwar hat sich nicht die Staatsform verändert, wie bei Van Winkle, wohl aber die Ansichten darüber, wie diese zu organisieren sei. Und es hat sich einiges in den letzten anderthalb Dekaden radikalisiert. Wer Ende der Neunziger starb, würde er heute zum Wiedergänger: Ihm fiele es nicht nur aufgrund der neuen Medien schwer, sich zu orientieren. Technisch Neues nimmt man an, wendet sie dankbar an - aber Denkweisen und Kategorisierungen des Zeitgeistes, die sind nicht einfach anwendbar.
Alles scheint mir heute so eng, so bedrückend geworden. Der Optimierungswahn hat uns selbst in unserem privaten Alltag erreicht. Ja, wir selbst sollen optimal auf den Alltag eingestellt werden. Gelassenheit scheint aus der Mode. Heute ist immer gleich Hype, Aufschrei oder Hysterie. Hass war Ende der Neunziger natürlich ein Metier der »Bildzeitung«. Heute ist alles irgendwie immer gleich Hass. Ich sage nur: Shitstorm. Alle sind ständig aufgebracht - und gleichzeitig ignorant. Wir sind engstirniger geworden als damals. Und das bei gleichzeitigen Ausbau kosmopolitischer Mittel. Stetige Betriebsamkeit. Egal, wo man auch ist, einen Bildschirm gibt es eigentlich immer, auf dem ein Laufband mit Meldungen unter einem Anchorman vor sich hin tickert. Das Leben scheint mir wesentlich hektischer geworden seit damals. Wir sind in einem »Regime der Beschleunigung« gelandet.
Ich habe oft genug darüber berichtet, wie der Gastarbeiter, der mein Vater war, mit Alltagsrassismen zu tun hatte. Das gab es alles schon damals. Aber den Wahn, wie wir ihn heute kennen, diese sture Haltung, Integration müsse »auf die Deutsche« gemacht werden, war noch relativ zurückhaltend. Der Anschlag auf das World Trade Center und all diese Patriot Acts von Washington bis Berlin haben Schärfe in zwischenkulturelle Themen gebracht, denen man sich unter vernünftigen Gesichtspunkten nur mit kühlem Kopf widmen sollte.
Vielleicht habe ich diese Enge als junger Mensch nur noch nicht so wahrgenommen und die Welt hat sich gar nicht so sehr verwandelt. Vielleicht käme der gute Rip herab von seinem bergigen Domizil und würde gar nicht Notiz davon nehmen, dass einige Jahre ins Land gegangen sind. Und ich rede jetzt ausdrücklich nicht von den technischen Möglichkeiten, die die Zeitenläufte nicht vertuschen könnten. Ich meine das eher so geistesgeschichtlich, von der Mentalität und vom Zeitgeist her.
Aber wenn ich es so recht durchdenke: Diese Mischung aus Optimierungshysterie und medialer Dauerberieselung, aus Ausrichtung privater Leben nach wirtschaftlichen Vorgaben, »humanitären Militarismus« und die Salonfähigkeit faschierter Ansichten, das alles gab es damals doch noch nicht. Oder wenigstens nicht so ausgeprägt. Mensch, sind wir radikal geworden. Und noch dümmer als wir es ohnehin schon waren. Nach links hat sich kaum etwas bewegt. Alles nach Wirtschaftsvorgaben. Und nach Weltgeltungsdrang. Alles prüder und spießiger als damals. Und das war schon eine ekelhaft yuppyeske Zeit. Viel sozialer Rückschritt und menschlicher Niedergang. Käme er zurück, ich bin mir nicht sicher, ob er bleiben wollte. Das wollen ja die Lebenden schon viel zu oft nicht.
Heute vor 15 Jahren ist mein Vater gestorben. So lang her und doch erst gestern. Jedenfalls wir leben noch. Irgendwie. Die Frage ist nur: Wie lange? Und wenn ja, wie gut wird es?
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Täte es mein Vater diesem Gestalt aus Washington Irvings Kurzgeschichte von 1819 gleich - übrigens gilt »Rip Van Winkle« als die erste Short Story der amerikanischen Literatur -, entstieg er nach 15 unterirdischen Jahren seinem Grab? Es müsste wohl ein Kulturschock sein. Müsste man ihm gleich der komatöse Mutter aus »Goodbye Lenin« oder dem eingefrorenen Schwiegergroßvater aus »Hibernatus« (dem Funès-Film gab man in Deutschland den infantilen Titel »Onkel Paul, die große Pflaume«) eine Abziehbild der Welt von Ende der Neunzigerjahre simulieren? Zwar hat sich nicht die Staatsform verändert, wie bei Van Winkle, wohl aber die Ansichten darüber, wie diese zu organisieren sei. Und es hat sich einiges in den letzten anderthalb Dekaden radikalisiert. Wer Ende der Neunziger starb, würde er heute zum Wiedergänger: Ihm fiele es nicht nur aufgrund der neuen Medien schwer, sich zu orientieren. Technisch Neues nimmt man an, wendet sie dankbar an - aber Denkweisen und Kategorisierungen des Zeitgeistes, die sind nicht einfach anwendbar.
Alles scheint mir heute so eng, so bedrückend geworden. Der Optimierungswahn hat uns selbst in unserem privaten Alltag erreicht. Ja, wir selbst sollen optimal auf den Alltag eingestellt werden. Gelassenheit scheint aus der Mode. Heute ist immer gleich Hype, Aufschrei oder Hysterie. Hass war Ende der Neunziger natürlich ein Metier der »Bildzeitung«. Heute ist alles irgendwie immer gleich Hass. Ich sage nur: Shitstorm. Alle sind ständig aufgebracht - und gleichzeitig ignorant. Wir sind engstirniger geworden als damals. Und das bei gleichzeitigen Ausbau kosmopolitischer Mittel. Stetige Betriebsamkeit. Egal, wo man auch ist, einen Bildschirm gibt es eigentlich immer, auf dem ein Laufband mit Meldungen unter einem Anchorman vor sich hin tickert. Das Leben scheint mir wesentlich hektischer geworden seit damals. Wir sind in einem »Regime der Beschleunigung« gelandet.
Ich habe oft genug darüber berichtet, wie der Gastarbeiter, der mein Vater war, mit Alltagsrassismen zu tun hatte. Das gab es alles schon damals. Aber den Wahn, wie wir ihn heute kennen, diese sture Haltung, Integration müsse »auf die Deutsche« gemacht werden, war noch relativ zurückhaltend. Der Anschlag auf das World Trade Center und all diese Patriot Acts von Washington bis Berlin haben Schärfe in zwischenkulturelle Themen gebracht, denen man sich unter vernünftigen Gesichtspunkten nur mit kühlem Kopf widmen sollte.
Vielleicht habe ich diese Enge als junger Mensch nur noch nicht so wahrgenommen und die Welt hat sich gar nicht so sehr verwandelt. Vielleicht käme der gute Rip herab von seinem bergigen Domizil und würde gar nicht Notiz davon nehmen, dass einige Jahre ins Land gegangen sind. Und ich rede jetzt ausdrücklich nicht von den technischen Möglichkeiten, die die Zeitenläufte nicht vertuschen könnten. Ich meine das eher so geistesgeschichtlich, von der Mentalität und vom Zeitgeist her.
Aber wenn ich es so recht durchdenke: Diese Mischung aus Optimierungshysterie und medialer Dauerberieselung, aus Ausrichtung privater Leben nach wirtschaftlichen Vorgaben, »humanitären Militarismus« und die Salonfähigkeit faschierter Ansichten, das alles gab es damals doch noch nicht. Oder wenigstens nicht so ausgeprägt. Mensch, sind wir radikal geworden. Und noch dümmer als wir es ohnehin schon waren. Nach links hat sich kaum etwas bewegt. Alles nach Wirtschaftsvorgaben. Und nach Weltgeltungsdrang. Alles prüder und spießiger als damals. Und das war schon eine ekelhaft yuppyeske Zeit. Viel sozialer Rückschritt und menschlicher Niedergang. Käme er zurück, ich bin mir nicht sicher, ob er bleiben wollte. Das wollen ja die Lebenden schon viel zu oft nicht.
Heute vor 15 Jahren ist mein Vater gestorben. So lang her und doch erst gestern. Jedenfalls wir leben noch. Irgendwie. Die Frage ist nur: Wie lange? Und wenn ja, wie gut wird es?
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