Hier im Blog gibt es immer wieder Streitigkeiten darüber, wer oder was eigentlich links, rechts oder mittig ist. Stefan Pietsch und Stefan Sasse haben deswegen beschlossen, ein offizielles Streitgespräch zum Thema zu führen, in der Hoffnung, wenigstens für die Diskussion im Blog etwas Klarheit ins ideologische Durcheinander zu bringen.
Stefan Pietsch: In Deutschland stand wegen seiner Geschichte der Begriff des Rechten lange auf dem Index. Erst allmählich ist eine Einteilung, wie sie in den meisten Demokratien üblich ist, auch bei uns akzeptabel. Persönlich geben mir solche Definitionen wenig, im Politikstudium wird klassisch von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus gelehrt. Die drei Grundrichtungen der politischen Einstellung gibt es jedoch höchst selten in Reinkultur. Als Kind eines sozialliberalen Elternhauses war ich lange dem SPD-Spektrum zugeneigt, doch die, ja, Rücksichtslosigkeit gebenüber den zutiefst menschlichen Aspekten des Miteinanders hat mich zu jemanden werden lassen, der sich als liberal-konservativ bezeichnet.
In meiner Wahrnehmung gibt es zwei Typen von links gestrickten Menschen. Da ist der Typus Steinbrück, Gerhard Schröder oder für die noch älteren Semester Klaus von Dohnanyi, die das Edle und Aufrechte der linken Szene verkörpern. Leider stirbt dieser politische Schlag zunehmend aus. An seine Stelle tritt eine Melange aus idealistisch gesinnten Altkadern wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn, denen jede Eleganz abgeht, welche aber die Sehnsüchte lebensunerfahrener junger Menschen bedienen. Und es gibt eine neue Bohème im Gefolge der Grünen, die einen seltsamen Protetantismus von Verboten und strengen Geboten pflegen, das Ideal eines modernen Menschen entwerfen, der aber wie in jeder Religion nur die wenigsten zu folgen vermögen. In dieser atheistischen Version des guten Menschen avanciert jeder, der nicht zumindest in Teilen vegan lebt, sich nicht sofort nach genderneutraler Bezahlung erkundigt und armen Migranten nicht sofort mit offenen Armen begegnet, zu einem subversiven Subjekt des Ewiggestrigen.
Ich sprach anfangs von den menschlichen Aspekten, die heutige Linke nicht selten ausblenden und erwähnte bereits früher, dass in diesen Milieus Begriffe wie Eigenverantwortlichkeit, Vertrauen und Glaubwürdigkeit sowie Rechtsstaatlichkeit auf einem imaginären Index stehen. Weder finden sich diese Worte in politischen Reden, noch werden sie in Diskussionen als Grundlage allen überhaupt nur registriert. Doch ohne diese Eigenschaften und Regeln ist ein ziviles Zusammenleben nicht möglich.
Stefan Sasse: Die Begriffe "links" und "rechts" sind, wie du richtig erkenntst, nicht übermäßig aussagekräfigt. Ich verwende für Standortbestimmungen daher auch häufiger die Achse "progressiv <----> konservativ", und habe als Alternative einmal vorgeschlagen, "offen" und "geschlossen" zu verwenden. Denn die Überlappungen innerhalb der Lager sind ja oft die Crux an der Geschichte. Wenn etwa die LINKE die NATO und die EU ablehnt, und die AfD das auch tut - ist das dann links oder ist es rechts? Aus dieser Verwirrung kommen ja dann auch diese Blödsinnsargumentationen wie dass die NSDAP in Wahrheit eine linke Partei sei, oder ähnlicher Käse.
Dazu kommt die verbreitete Neigung, dem Lager, dem man selbst zuneigt, positive Eigenschaften zuzuschreiben. Du machst das ja in deinem Eingangsstatement ähnlich: Es gibt zwei Arten von Linken, die mit denen du wenigstens teilweise übereinstimmst (die Guten) und die, die du ablehnst (die Schlechten). Und das ist völlig normal, weil die Begriffe eben nicht eindeutig geklärt sind.
Ich selbst sehe mich beispielsweise auch nicht als links. Das liegt vermutlich daran, dass mit dem Wort ein gewisser Ballast an Positionen mitkommt, die ich nicht teile, ähnlich wie das bei dir und Erwin Gabriel mit dem Begriff "rechts" der Fall ist. Du hast allerdings damit recht, dass "rechts" im politischen Diskurs gerade enttabuisiert wird. Wir sind noch nicht so weit, dass die CDU sagen könnte, sie wolle nach rechts rücken, aber der Begriff braucht nicht mehr die heißen Beißzangen wie früher.
Vielleicht sollten wir daher damit beginnen, eine Art Konsens zu schaffen, was unzweifelhaft unter rechts und links fällt. Und das ist in meinen Augen nicht viel. Ein grundlegendes Bekenntnis zum Sozialstaat etwa findet sich in beiden Lagern. Individualismus gegen Kollektivismus lässt sich auch nicht nutzen, weil links wie rechts kollektive Ideen haben (auf der Rechten im Rahmen von "Volk", auf der linken eher klassenorientiert). Auch eine Schiene von national vs. international ist wenig aussagekräftig.
Am ehesten scheint mir daher eine Teilung bei den Werten möglich zu sein, womit wir wieder in der Schiene "progressiv vs. konservativ" sind. Auf der Rechten ist man eher am Traditionellen ausgerichtet, am Althergebrachten, am Natürlichen, am Bewährten. Auf der linken sieht man die aktuelle Gesellschaft als defizitär und versucht, sie zum besseren zu ändern. Beide sehen ihre jeweiligen Werte als Bedrohung; die Rechte sieht in den linken Vorstellungen eine Gefährdung der natürlichen Ordnung, während linke eine Tradierung unterdrückerischer Systeme sehen. Aber sonderlich konkret ist das alles nicht. Wie siehst du auf diese Thematik?
Stefan Pietsch: Jede politische Standortbestimmung hat so ihre Tücken. Parteien wie die LINKE und die AfD sind in Teilen eher reaktionär, wenn in Programmatik und Vorstellungen Verhältnisse angestrebt werden, die vielleicht vor Jahrzehnten gegeben waren. So sind für mich Ideen von einem völligen Verbot der Abtreibung, von einer kulturell homogenen Gesellschaft oder von Spitzensteuersätzen von 60, 70 Prozent nebst Rückkehr zum Anrechnungsverfahren schlicht reaktionär. Alle diese Positionen sind auf die Restauration vergangener Verhältnisse gerichtet. Der eine wird manchem zustimmen und anderes vehement ablehnen, aber das Merkmal bleibt.
Dann gibt es jedoch andere Themenfelder, wo sich Positionen nur mit dem klassischen Schema des Konservativen, Liberalen und Sozialistischem umschreiben lassen. Der Schutz ungeborenen Lebens scheint eher ein konservatives Merkmal zu sein, die Berechnung des potentiellen Steuerbetrages allein vom Existenzminimum aus dagegen etwas eindeutig sozialistisches. Was folgt daraus? Deine Vorschläge ergänzen das Schema ohne das Alte vollständig ersetzen zu können.
Ich finde die Einteilung in Links und Rechts nicht grundsätzlich falsch und auch nicht die Zuschreibung auf Personen. Menschen wollen Orientierung und solche Schemata bieten diese. Unter der politischen Gesäßgeographie können sich die meisten etwas vorstellen und seien es voreingenommene Bilder. Das gilt nicht für Einteilungen wie „progressiv“ und „nicht-progressiv“, das ist etwas für politologische Seminare. Deswegen habe ich kein Problem, mich heute unter rechts einzuteilen, obwohl ich mich in der Mitte der Gesellschaft stehend empfinde. Demoskopische Erhebungen, die ich von Zeit zu Zeit ausfülle, überraschen mich. Entgegen der eigenen Erwartung befinde ich mich nur mit einem Teil meiner Ansichten in der Minderheit, mit anderen in der Mehrheit. Das wird den meisten so gehen.
Was macht also jemanden zum Rechten? Ein typisches und gleichzeitig klassisches Merkmal der Unterscheidung ist das Maß der Überwachung, das der politisch Interessierte dem Staat zubilligt. Während Rechte im Bereich Sicherheit, Migration, Internet und sozialer Sicherheit nach der Allgegenwart des Staates rufen und sich in wirtschaftlichen Fragen libertär verhalten, findet sich das Spiegelbild dazu auf der Linken. Beide Seiten haben also ein ambivalentes Verhältnis zum Staat und seinen Aufgaben. Als liberal geprägter Mensch stehe ich libertär zu beiden Seiten und bin daher nicht klassisch rechts. Ich halte nichts davon, Menschen Vorschriften über ihre Lebensweise zu machen oder Sozialhilfeempfänger zu überwachen.
Allerdings, und da bin ich eindeutig konservativ, glaube ich an die Stabilität von zwischenmenschlichen Beziehungen. Eine Gemeinschaft besteht nicht nur aus Rechten, sondern auch aus Pflichten, die sich nicht in Gemeinschaftszahlungen erschöpfen. Wenn Menschen andere schädigen – durch schlechte Erziehung, durch Abtreibung, durch Ausnutzen von sozialen Regelungen – braucht es staatliche Korrektive. Diese bestehen in Prüfungspflichten für Minderjährige, für abtreibungswillige Schwangere und Budgetzuteilungen für Transferempfänger. Und ich muss küssende schwule Paare nicht, sagen wir, ästhetisch finden ohne ihnen trotzdem emotional das Recht zuzugestehen, so zu leben.
Stefan Sasse: Ich möchte das alte Schema auch eher ergänzen als ersetzen. Ich stimme dir außerdem in deiner Unterscheidung von reaktionär und konservativ absolut zu. Auch deine eigene politische Standortbestimmung zeigt die Grenzen des Systems und dass es ergänzende Metriken braucht. Wahrscheinlich muss die Rechts-Links-Achse für jedes Themengebiet einzeln benannt werden. Etwa wie du es bei den Fragen der Freiheitsrechte tust. In manchen Fällen verbitten sich die Linken jede Einmischung des Staates, in anderen die Rechten, und umgekehrt finden Linke in manchen Bereichen starke Regulierungen völlig in Ordnung, während in gegenteiligen Fällen die Rechten sich wünschen, dass der Staat aggressive Einmischung betreibt. So etwas wie Abtreibung ist ein wunderbares Beispiel, wo diese Grenzlinien verlaufen, oder umgekehrt eine Frage wie die Zuckersteuer oder so was.
Ich denke dass es wichtig ist, dass wir diese Spektren klar voneinander abgrenzen. In dieser Sichtweise wäre quasi der Wunsch nach Stabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, wie du das so schön formulierst, konservativ, während ein Verbot von Abtreibung und eine Einschränkung der Frauenerwerbstätigkeit reaktionär wären. Was hältst du denn für die Gegenstücke auf der Linken?
Stefan Pietsch: Das Thema Abtreibungen wird auch von konservativer Seite von verschiedenen Werten überlagert, insbesondere die christliche Sicht auf den Lebensschutz. Ich kenne Konservative, die, z.B. Frauen, eine liberale Einstellung zum Abtreibungsrecht vertreten, dafür aber Familie sehr hoch hängen. Das Gegenstück auf linker Seite wird derzeit in einiger Vehemenz debattiert. So treten maßgebliche Vertreter der Democrats wie die deutschen Jusos in Gänze dafür ein, Abtreibungen bis zur Geburt zuzulassen. Eine solche Haltung geht weit über jeden Common Sense hinaus. Das ist extremistisch und gleichzeitig bedauerlich, dass Linke sich davon nicht distanzieren.
Aber im Allgemeinen haben viele Rechte heute mit der Linken das Problem, dass sie die andere Seite schlicht als weltfremd und idealistisch empfinden. Anders als zu früher geht es nicht mehr um Werte, sondern der Glaube, im Besitz der endgültigen Wahrheit zu sein. Die von mir zu Beginn genannten Sozialdemokraten waren noch Zweifelnde, welche des öfteren die Erfahrung gemacht hatten, falsch zu liegen. Viele Vertreter der Grünen, Aktivisten von Grundeinkommensbefürwortern bis zur neuen Klasse der "Fridays for Future"-Bewegung sind keine Zweifelnden mehr, sondern moderne Kreuzritter, bereit, jeden zu bekehren oder an den öffentlichen Pranger des Wahrheitsleugners zu stellen. Ein alter Sozialdemokrat dieser Tage schrieb hier vor kurzem: Bedenke, dass der andere möglicherweise Recht haben könnte. Eine solche Zurückhaltung stirbt auf der Linken zunehmend aus und es verwundert mich daher nicht, dass der klassische Bereich des Linken schrumpft.
Am Ende ist es diese Selbstgewissheit gepaart mit der moralischen Herabwürdigung des anderen, die heute viele Menschen von Rechts bis zur Mitte abstößt. Was für die moderne Linke das verbindende Element ist, isoliert sie auch. Und wie jede ins Extreme neigende Ideologie geht die moderne Linke über die gravierenden inneren Widersprüche hinweg, negiert sie. Ein Beispiel: Inspiriert vom emanzipatorischen Ansatz wird das Weibliche als die überlegende Lebensform dargestellt, dem wegen paternalistischer Strukturen der gesellschaftliche Siegeszug, die Übernahme von politischen Ämtern und Unternehmensposten verwehrt wird. Doch warum das Weibliche dann doch zum Opfer wird, wenn es doch so überlegen ist, das wird mit einer Generalnorm weggewischt. Dass eventuell die Mehrheit der Frauen andere Lebensmodelle bevorzugt als ihre Vordenkerinnen propagieren, kommt nicht vielen auf der Linken in den Sinn. Für mich als Liberal-Konservativen bildet da die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder ein angenehmes Gegenstück.
Stefan Sasse: Es gibt aber auch gerade in den USA genug Konservative, eine extremistische Anti-Haltung zum Abtreibungsrecht vertreten. - Aber geschenkt, wir reden von Deutschland. Ich finde Begriffe wie "common sense" (oder "gesunder Menschenverstand") problematisch, gerade bei ethischen Fragen. Was heute common sense ist, kann in zehn Jahren schon als rückwärtsgewandt gelten - oder als irre. Je nachdem.
Was deine "ich könnte falsch liegen"-Einstellung angeht, stimme ich dir völlig zu, dass das ein positiver Zug ist. Aber deine Beispiele sind merkwürdig. Kristina Schröder etwa fällt dir ja weniger positiv auf, weil sie Raum für Fehler lässt, sondern weil sie deine Meinung abbildet. Denn Selbstgewissheit, gepaart mit moralischer Herabwürdigung, ist wahrlich kein linkes Alleinstellungsmerkmal. Oder muss ich dich an zahlreiche herablassend-moralisierende Kommentare deinerseits über die Haltung von Linken zu Schulden und Wirtschaftspolitik erinnern, in der du mit der Aura der Unfehlbarkeit (dank ausufernder Erfahrung in Führungspositionen) die Welt erklärst? Es ist en vogue, uns Progressiven das Moralisieren vorzuwerfen, aber sowohl Liberale als auch Konservative können das auch sehr gut selbst. Ihr kleidet es halt nur in "common sense".
Aber ich fürchte, wir treten gerade abseits des eigentlichen Argumentationspfads. Was ich für einen wichtigen Diskussionspunkt halte ist weniger, warum wir Progressiven aus deiner Sicht und ihr Konservativen aus meiner Sicht falsch liegt, sondern wo die akzeptablen Grenzen liegen. Denn wir lehnen zwar gegenseitig unsere fiskalpolitischen Einstellungen ab, sind uns aber glaube ich einig darin, dass sie vertretbare politische Positionen darstellen. Sowohl eine stärker kreditfinanzierte staatliche Investitionspolitik als auch eine eher den Prinzipien des Ordoliberalismus verhaftete Wirtschaftspolitik sind ja ohne Systemwechsel durchsetzbar.
Gleiches gilt auch für das Abtreibungsrecht. Wenn es eine Mehrheit für Abtreibungen bis in den zehnten Monat gäbe, würde die Bundesrepublik nicht in ihren Grundfesten erschüttert, und wenn man sie auf die ersten sechs Wochen beschränkte auch nicht (auch wenn wir beide das sicherlich ablehnen würden). Wo also liegen die Grenzen dessen, womit man sich rechts wie links noch innerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegt?
Stefan Pietsch: Ich denke die wenigsten Rechten, wenn ich das an dieser Stelle als Sammelbegriff für Konservative und Liberale nehme, empfinden sich ob ihrer politischen Haltung und moralischen Werte als bessere Menschen. Das jedoch wurde mir so schon des Öfteren in Blogs von Linken entgegen geschleudert. Und auch die den Grünen zugeneigten Milieus kommen gerne mit dem moralischen Impetus.
Ich werfe jungen Menschen nicht vor, dass sie wenig Lebenserfahrung haben. Ebenso wenig wie ihren Idealismus. Der ist so notwendig wie die Erfahrung der Alten. Ohne Idealismus und Enthusiasmus wäre unsere Welt arm. Doch es gibt zwei Verhaltensweisen, die nicht allein in Debatten besonders ärgerlich sind, das Diskutieren ohne Rücksicht auf Geschichte und Ignoranz. Auch Neoliberale entziehen sich nicht der Logik und Evidenz von Keynes' Konjunkturtheorie. Es gab in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte zahlreiche Versuche, diese anzuwenden und sie waren weitgehend erfolglos. In den Siebziger und Achtzigerjahren bauten sich so erhebliche Staatsdefizite auf, die liberalen Verschuldungsregeln des Grundgesetzes wurden oft gebrochen. Die Schuldenbremse ist das Ergebnis dieser Erfahrungen. Wer also daran auch nur argumentativ rütteln will, muss Sicherheiten bieten, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Doch kein Linker lässt sich nur ansatzweise auf solche Schlussfolgerungen ein.
Ich schätze an Kristina Schröder das, was ich generell an Menschen schätze. Sie war ein Vorbild als Ministerin (Dienerin). Gemäß ihrem gesetzlichen Auftrag und der Koalitionsvereinbarungen exekutierte sie den politischen Willen der Regierungsspitzen, selbst gegen eigene Überzeugungen. Entsprechend ihren Überzeugungen ging sie aus der Politik und widmet sich heute auch der Erziehung ihrer Kinder. Eine Frau mit Haltung, unaufdringlich und Gemeinschaftssinn wie Verantwortungsgefühl.
Deine Frage lässt sich kaum beantworten. Das Grundgesetz lässt der Politik so viel Spielraum, weil dessen Väter nicht absehen konnten, wohin sich die Weltläufe entwickeln würden. Demgemäß haben beide Seiten ein großes Feld, wo sie sich austoben könnten. Das reicht jedoch extremistisch veranlagten Parteien wie der AfD und den LINKEN nicht, die in einem gewichtigen Teil ihrer Ideen nicht ganz auf dem Boden der Verfassung stehen oder sie leichter Hand schlicht ignorieren. Nein, ich glaube so nähern wir uns nicht der Unterscheidung. Nach meinem Dafürhalten lassen sich Links und Rechts heute weniger durch einzelne politische Positionen, sondern durch generelle Haltungsfragen abgrenzen, so welche Bedeutung der Eigenverantwortung eingeräumt wird. Siehst Du darin einen Ansatzpunkt?
Stefan Sasse: Du argumentierst letztlich, dass das Beharren auf Begrenzung der Schulden ökonomischer Rationalität entspricht, aber gleichzeitig ist es immer auch moralisch aufgeladen. Ich habe kein Problem damit wenn du mir sagst, dass ich moralisch argumentiere (und für mich in Anspruch nehme, die richtige Moral zu vertreten; wäre man nicht von der Richtigkeit der eigenen Moral überzeugt, hätte man sie ja nicht). Was mich stört ist die Behauptung, dass NUR die Linke moralisch wäre. Und eine Variante davon scheint mir auch die Vorliebe für Schröder hier zu sein. Haltung hat auch Lafontaine. Du magst Schröders Haltung halt. Das ist ja völlig ok. Ich habe witzigerweise auch mal zwei Loblieder über sie geschrieben, damals 2010/2011, bevor ich bemerkt habe, dass sie falsch lag. Da bewunderte ich sie für dasselbe wie du. - Aber das ist mal wieder eine Stilkritik.
Das Grundgesetz hatte auch Mütter, wenngleich nicht viele ;) Ich denke wir sind uns einig beim Spielraum, den das Grundgesetz einräumt. Der ist grundsätzlich hoch, und sicherlich höher, als es im öffentlichen Diskurs jeweils behauptet wird. Ich hasse das Argument, dass das Grundgesetz diese oder jene Politik ausschließe, immer mit Verweis auf die ersten 20 Artikel, als ob man das daraus so einfach ableiten könnte! Aber ja, sowohl LINKE als auch AfD operieren in manchen Bereichen ziemlich an den Rändern dieses Spielraums herum. Insgesamt aber sind beide Parteien (noch) innerhalb des Konsenses, zumindest überwiegend.
Und damit kommen wir zur Unterscheidung. Ich sehe die Eigenverantwortung definitiv als ein Unterscheidungsmerkmal, aber ich tue mich schwer, es für die Links-Rechts-Unterscheidung zu nutzen. Das ist eher was, was die Liberalen vom ganzen Rest abhebt. Sozialdemokraten, Sozialisten und Grüne auf der einen und Konservative und - wie nennen wir sie? Illiberale Demokraten, à la Orban? - auf der anderen Seite sind sich ja durchaus ähnlich in der grundsätzlichen Einschätzung, dass die Gesellschaft eine gewisse Rolle spielt und die Eigenverantwortung innerhalb dieser Gesellschaft ihre Grenzen und Stützen findet. Bei Konservativen ist das eher die Familie, weiter rechts außen das "Volk", auf der linken sind es verschiedene Formen des Staatswesens und der Gesellschaft als nebulösem Ganzen (Stichwort "Solidarität"), die da entsprechend begrenzend wirken. Die einzigen, die wirklich alle diese Aspekte ablehnen, sind die Liberalen, und die waren immer schon nur eine Splittergruppe. Und da fangen wir noch gar nicht von den inhärenten Widersprüchen an, die etwa Monopolisierung und Kapitalakkumulation und die Fortschreibung von Klassenprivilegien da haben; aber das führt zu weit. Als Rechts-Links-Unterscheidung alleine finde ich es aus diesen Gründen eher problematisch.
Ich denke ergiebiger ist da zu schauen, wer als Teil der In-Group definiert wird. Ich habe ja oben bereits anklingen lassen, dass auf der Rechten eher national-ethnische Kriterien vorherrschend sind (weswegen sich die CDU ja auch mit der Migrationsrechtsreform und den Flüchtlingen so schwer tut), während auf der Linken eher klassen- und solidaritätsorientierte Aspekte vorherrschen, à la "du gehörst zur Gruppe wenn du dich zugehörig fühlst", was im anderen Extrem dann wieder sehr beliebig und schwammig werden kann. Was denkst du über diese Achse? Es wäre auch eine, auf der die Liberalen tatsächlich ziemlich genau in der Mitte sitzen, was dir attraktiv sein dürfte. ;)
Stefan Pietsch: Wir scheinen Konsens zu haben, was die Bewertung der AfD und der LINKEN an den Polen des alten Spektrums betrifft. Die LINKE operiert mit ihren steuerpolitischen Vorschlägen und Enteignungsfantasien so an den Grenzen der Verfassung, dass im Falle der Umsetzung über jeden Eingriff in Karlsruhe entschieden werden müsste. Schon das ist für einen bürgerlich denkenden Menschen eine absolute Absurdität. Und eine Partei, die deutsche Staatsbürger im Ausland entsorgen möchte, ist ohnehin nicht von dieser Verfassung.
Das rechte Bürgertum hält Moral mehrheitlich für keine Kategorie der Politik, wertbasiert dagegen schon. Konservative wie Liberale vertrauen auf Regeln des Zusammenlebens, weswegen Tabubrüche so unbeliebt sind. Aber Deine Namensnennung bringt mich auf einen sehr guten Vergleich, der gravierende Unterschiede zwischen Links und Rechts deutlich macht. Zwei Politiker, der eine ein sogenannter Wertkonservativer, der andere ein moderner Linker. Ihre gemeinsame Geschichte beginnt im Jahr 1990, als beide im Abstand von weniger als 6 Monaten Opfer eines Attentats werden.
Es ist klar, von wem die Rede ist. Wolfgang Schäuble hat den Großteil seines politischen Lebens in der gestaltenden Politik zugebracht, er hat gedient, er hat sich zurückgenommen, obwohl er der talentierteste Politiker seiner Generation in der CDU war. Er hielt seine Partei nach dem Machtverlust zusammen und stützte auch die Regierung in einer die Grundfesten des Konservativen berührende Frage in der Eurokrise. In einer Frage von Moral hat er sich für seine Werte entschieden, als er mit dem spendenumwitterten Altkanzler Helmut Kohl brach. Niemand hat je bezweifelt, dass dies aus zutiefst moralischen Gründen geschah.
Auf der anderen Seite Oskar Lafontaine, der immer der populistische Oppositionspolitiker blieb, wo die Geschichte immer hinterher passt. Seinen ersten Landeswahlkampf führte er gegen die damals aufstrebenden Grünen, in dem er sich, mit dem populären Umweltpolitiker Jo Leinen an seiner Seite, als der bessere Grüne gerierte. Fünf Jahre später war die Sache anders, damals machten die rechtsextremen Republikaner Furore und der saarländische Ministerpräsident wandelte sich zu einem Nationalisten light. Er stürzte nicht nur fulminant einen taumelnden Parteichef, sondern half bei der Zerstörung gleich zweier linker Parteien tatkräftig. Sowohl der Niedergang der SPD wie der der LINKEN sind mit dem Namen Lafontaine verbunden. Vor seinem spektakulären Rücktritt im Frühjahr 1999 machten Gerüchte die Runde, er wolle den eigenen Kanzler in die Resignation treiben. Als er den Dienst nach wenigen Monaten quittierte, in denen er die halbe Welt gegen sich aufgebracht hatte, erklärte er sich nicht der Öffentlichkeit. Erst später kamen Behauptungen auf, er sei unter anderem wegen der Kriegspolitik der Regierung zurückgetreten. Zweifel sind erlaubt, kein Kabinettskollegen von damals kann sich an entsprechende Äußerungen diesbezüglich vom Finanzminister erinnern.
Das sind Haltungsfragen. Rechte akzeptieren die Brüche des Lebens eher. Dick Cheney haderte nicht mit der Homosexualität seiner Tochter, er hielt sie aus der Politik heraus. Linke neigen nicht selten dazu, nachträglich Brüche zur Konsequenz zu erklären. Ein typisches Muster dafür zeigt sich in der Annexion der Krim. Erst wird geleugnet und nachdem Fakten geschaffen sind, wird die unmoralische Tat zur wertorientierten Konsequenz verklärt.
Damit sind wir bei einem weiteren Vorhalt: anders als Du es darstellst, hat die Linke den Begriff der Solidarität gekapert und ihn in sein Gegenteil verkehrt. Sowohl Begriff als auch das gemeinte Verhalten stammen aus dem bürgerlichen familiären Empfinden. Familienmitglieder stehen füreinander ein, aber werden auch in dem Verbund diszipliniert. Jede familiäre Solidarität hat ihre Grenzen. Für die Linken zählt die Familie wenig bis nichts, das Ideal ist der alleinlebende Individualist und jeder vermeintlich Bedürftige oder Benachteiligte genießt die grenzenlose gesellschaftliche Solidarität der Gemeinschaft, finanziert nach dem Robin Hood-Prinzip. In einem solchen System muss jede Frage nach Eigenverantwortung zwangsläufig untergehen. In öffentlichen Debatten lebt die Linke von der ewigen Putzfrau, die trotz Fleiß keinen Lebensabend in Würde verbringen kann – so als würde der Wohlstand der Nation von fleißigen Putzfrauen abhängen, die es natürlich in Afrika nicht gibt. Und auf der anderen Seite wird gefallenen öffentlichen Personen des Bürgertums wie Uli Hoeneß oder zu Gutenberg nicht geglaubt und diese ins Feuer der ewigen Verdammnis geworfen.
Stefan Sasse: Wo liegt denn der Unterschied von "Moral" und "Wert"? Das ist doch pure Semantik. Und ich bin wahrlich kein Lafontaine-Fan (mehr), aber die negative Art, wie du ihn darstellst, könnte ich sicherlich auch auf Wolfgang Schäuble umlegen. Der Mann hat immerhin Schmiergelder persönlich im Aktenkoffer entgegengenommen; wenn das die überlegende Wertebasis der Konservativen ist, weiß ich auch nicht. Vielleicht akzeptieren wir einfach, dass diese Zuschreibungen auf unseren Präferenzen beruhen und weniger auf objektiv feststellbaren Charaktermerkmalen? "Politiker X ist ein Musterbeispiel für Moral/Wertebasis, weil ich mit seinen/ihren Positionen übereinstimme" ist schließlich letztlich eine Nullaussage.
Ich kann daher natürlich auch deine Invektive gegen "die Linken" so nicht akzeptieren, und ich könnte leicht eine über Konservative schreiben. Aber wozu soll das führen? Ob es jemals eine "reine" Form des Begriffs der Solidaridät gab, der von der Linken auf gemeinste Weise gekapert und missbraucht wurde, ist für unsere Zwecke reichlich irrelevant. Der Begriff hat eine neue Bedeutungsebene angenommen, und die Bruchlinien zwischen beiden Seiten sehen wir ja beide - auch wenn wir uns naturgemäß in der Bewertung uneins sind.
Aber das ist ja grundsätzlich in Ordnung. Ich würde vielleicht noch eine andere Stoßrichtung dieser Debatte eröffnen. Man erkennt denke ich die gemäßigte Rechte und Linke auch daran, inwiefern sie Siege der anderen Seite anzuerkennen bereit sind. Die Beispiele aus der bundesrepublikanischen Geschichte sind ja hinreichend bekannt: Marktwirtschaft und Westbindung werden von der SPD, die Reformen der 1970er Jahre (wie das Betriebsverfassungsgesetz, das Scheidungsrecht u.v.m.) und die Ostpolitik von der CDU anerkannt und als Basis genutzt. Ein wichtiger Bestandteil ist die grundsätzliche Akzeptanz der Legitimität des politischen Gegners. Wir mögen uns ständig bei bestimmen Themen in die Haare kriegen, aber wir akzeptieren das Ergebnis des demokratischen Prozesses. Die Ränder tun das nicht; hier gelten dann "Meinungsmache", "Lügenpresse", "Korruption" oder "Verrat" als Merkmale dafür, dass der "wahre Volkswille" (den natürlich nur der jeweilige populistische Rand fehlerfrei zu lesen in der Lage ist) hintergangen wurde.
Stefan Pietsch: Meiner Ansicht nach führt Dein Aspekt der Anerkennung gegenseitiger Erfolge nicht weit. Schließlich hat das zum einen eher mit Realpolitik zu tun, zum anderen steckt dahinter auch viel Legende. Und wir sollten den Fokus nicht nur auf Deutschland und die USA richten. So führtest Du vorher an, das Nationale sei ein Merkmal der Rechten und übersiehst dabei, dass Linke sich vom griechischen Premier Tsipras über die italienische 5-Sterne-Bewegung bis hin zu Mélenchon stark nationaler Elemente bedienen. Die Linke scheint immer zwischen Extremen zu pendeln.
Wie erklärst Du Dir, dass dem linken Lager seit 1990 die Wähler davonlaufen und die Zugewinne wie idealistisch gesinnte Jugendliche diese Verluste nicht ausgleichen konnten? Wie ist zu bewerten, dass die Linke in der westeuropäischen Geschichte gefühlt 20% der Zeit regiert hat und die politische Rechte die natürliche Regierungswahl ist? In Frankreich konnten die Sozialisten gerade 3 Regierungszeiten den Präsidenten stellen, und bevor sich die Wähler für Macron entschieden, war der Konservative François Fillon der natürliche Nachfolger, der trotz Skandalen 20% im ersten Wahlgang erreichte. Daran setzte ich mit meinem Vergleich an: Lafontaine gefiel sich im politischem Leben als derjenige, der es hinterher besser wusste, während Rechte sich bewusst sind, im Handeln sich auch die Hände schmutzig zu machen. Nebenbei: der Vorgang über die Spendenannahme ist bis heute umstritten.
Werteorientierung findet sich nach Innen, die Moralmonstranz nach Außen. Es gibt Zeitgenossen, die wegen ihrer inneren Überzeugungen auf einen SUV als motorisierten Untersatz verzichten. Das ist ehrbar und niemand stört sich daran, für manche ist das genau ein Antrieb. Der Moralgetriebene klagt die Gesellschaft an, wie überhaupt die Mitmenschen noch Auto fahren können angesichts der verherrenden Schäden. Die Linke ist durchsetzt von letzterem und jedes Verhalten und jede Entscheidung muss moralisch überhöht werden. Dabei sind die Beispiele Umweltschutz, Rente, Mindestlohn, Besteuerung völlig austauschbar. Am Wohlsten, das hat der Parteitag der SPD zur Europawahl wieder gezeigt, fühlen sich Linke, wenn sie, losgelöst von realen Verhältnissen, Forderungen in die Welt setzen können. Im Nationalen zählt hierzu zweifellos die Debatte um eine Mindestrente. Doch der Slapstick schlechthin war für mich, als 2015 Tspiras in Griechenland sich erst ein Wählervotum holte, keinesfalls einschränkenden Reformen sein Placet zu geben, um binnen Wochenfrist von den EU-Partnern eingenordet zu werden.
Noch zu den eingangs erwähnten Legenden: die Linke klebt bis heute an der Geschichte, die von Willy Brandt eingeleitete Entspannungspolitik sei ursächlich für die Auflösung des Ost-West-Konflikts. Historisch ist das nicht haltbar. Weder haben die Greise im Politbüro der KPdSU aus Altersweisheit und Zeichen der Entspannung Michail Gorbatschow ins Amt des Generalsekretärs gehievt, noch gab Honecker die Macht ab, weil er vertrauenswürdige Partner im Westen gefunden hatte. Auf der anderen Seite haben weder Helmut Kohl noch Franz-Josef Strauß ihr Handeln so überhöht, dass Anerkennung der DDR und Millionenkredit nun den Sozialismus über die Klippe gekippt hätten.
Stefan Sasse: Dass die Ostpolitik überhöht wird ist völlig richtig, aber das ändert ja nichts daran, dass sie seinerzeit auf Seiten der Rechten fanatisch abgelehnt wurde. Die CDU war damals schnell mit dem Vorwurf des Landesverrats bei der Hand, das musst du nicht beschönigen. Die Erkenntnis, dass man sich beim Regieren die Hände schmutzig machen muss, kommt Konservativen nämlich auch auf zauberhafte Weise immer dann, wenn sie an der Regierung sind, und wird dann in der Opposition vergessen. - Aber wie gesagt, ich würde wirklich gerne versuchen, die persönliche Bewertung der Themen rauszuhalten.
Du sprichst allerdings eine tatsächliche, reale Unterscheidung zwischen Links und Rechts an, die sogar die populistischen und extremen Pole betrifft. Ich habe 2011 darüber geschrieben, dass die Konservativen sehr gut im pragmatischen Akzeptieren von Kompromisslösungen sind, und dass die Linken stets zwischen Triumph und Verrat oszillieren und dass das massiv dazu beiträgt, dass sie so wenig an der Regierung sind. Linke hassen Kompromisse. Das ist auch die größte politische Schwäche dieser Seite des politischen Spektrums. Sebastian Haffner hat bereits 1982 die gleiche Beobachtung gemacht, als er in seinem Buch "Überlegungen eines Wechselwählers" die Rechte und die Linke mit Händen eines Rechtshänders verglich: gearbeitet wird hauptsächlich mit der rechten Hand, während die linke unterstützend gebraucht wird, irgendwie so ging die Metapher. Und er endete mit der fein-ironischen Feststellung, man solle nie vergessen, dass es auch Linkshänder gibt.
Die größten Erfolge der Linken finden nie statt, wenn ideologisch reine Vertreter an der Macht sind, die Lafontaines, Bebels und McGoverns. Erfolge in Regierungsarbeit werden dann erreicht, wenn die seltene Kombination eines pragmatischen, kompetenten Linken kommt. Die Brandts, Roosevelts und Obamas. Das liegt aber auch an einer Grundmechanik dieser beiden Seiten. Linke wollen den Status Quo verändern. Das ist der Kern, das Id ihres ganzen Daseins. Konservative wollen den Status Quo bewahren. Ich meine, das ist schon im Wort. Veränderungen blockieren ist aber IMMER einfacher als sie aktiv herbeiführen. Deswegen halten Konservative problemlos 16 uninspirierte Regierungsjahre aus, solange nur alles im Großen und Ganzen stabil bleibt, während Linke häufig nach ein oder zwei Regierungsperioden völlig ausgebrannt sind und dem Irrglauben anhängen, sich in der Opposition "regenerieren" zu müssen. Das ist und bleibt die Achillesferse.
Und wie gesagt, das erstreckt sich auch auf die Ränder. Die Basis von Rechtsradikalen oder Rechtspopulisten ist wesentlich eher bereit, an die Regierung zu gehen und dort irgendwelche Ziele umzusetzen und Niederlagen zu akzeptieren als die Linke. Ich halte es für unvorstellbar, dass Bernie Sanders' Basis bereit wäre ein ähnliches Ausmaß an Niederlagen für einige symbolische Siege hinzunehmen wie Donald Trumps.
Stefan Pietsch: Die Metapher gefällt mir. Die Frage ist aber, warum sich die Linke nicht verändern kann. Es gehört zur Normalität des Lebens, dass Unterstützergruppen wegsterben oder verschwinden. So war lange das Ziel Linker, Menschen den Aufstieg zu jenen zu ermöglichen, die bereits auf dem Sonnendeck liegen. Diesen Anspruch haben linke Parteien weitgehend aufgegeben. Mehr noch: seit den revolutionären Zeiten des Jahres 1990 haben sich die konservativen Parteien gewandelt, sind zu gestaltenden Kräften geworden mit erheblichem Veränderungswillen. Während in Deutschland die SPD in den Wendejahren trotz politischer Opposition weitgehend ermattet war und keine Ideen für die Gestaltung des vereinigten Deutschlands zu entwickeln vermochte, trudelten auch die Schwestern in Spanien, Frankreich und Italien in die Agonie.
Es war die ermattete CDU, die Mitte der Neunzigerjahre lange gewachsene Probleme im Steuer- wie Sozialrecht angehen wollte. Es waren diese Konservativen, welche die europäische Integration vorantrieben und eine vorsichtige Neupositionierung der Außenpolitik angingen, wo SPD und Grüne bremsten. Wo sich Labour und Dems fragten, warum sie immer gegen die Rechten verloren, wandelte die kontinentaleuropäische Linke auf den Pfaden der Restauration. Frankreich führten in Zeiten der Cohabitation unter Premier Lionel Jospin die 35-Stunden-Woche ein und weitete die Frühverrentung aus. In Italien fragte die Linke nach den postsozialistischen Pfaden, nachdem gerade das sozialistische System kollabiert war und ermöglichte den in der Korruption versunkenen Konservativen die schnelle Rückkehr an die Macht.
Spätestens mit dem (Teil-) Machtverlust 2005 wandelt auch die deutsche Linke auf den Pfaden der Restauration. Im Steuer- und Sozialrecht werden Vorschläge der Achtzigerjahre hervorgekramt, während in Fragen der europäischen Integration, der Militarisierung und der Migrationspolitik einem naiven Ansatz gefolgt wird. Realpolitiker wie Sigmar Gabriel wurden auf die hinteren Bänke verdrängt. Es ist also genau anders wie Du es darstellst, Rechte und Linke haben die Rollen gewechselt. Heute sorgen sich die Rechten darum, den Kamin für den sozialen Aufstieg freizuhalten und die Linken machen sich zur Schutzmacht, jener, die ihren Status nicht mehr eigener Leistung, sondern Alter und Organisationskraft verdanken. Meine These: den Menschen gefallen zwar einzelne sozialpolitische Vorstellungen, aber ihr Leben wird nicht davon tangiert. Deutschland ist kein Volks von Putzfrauen und Dachdeckern. Wann also beschäftigt sich die Linke wieder mit Zukunftsfragen?
Stefan Sasse: Ich kann dir in der Diagnose der Malaise der Linken kaum widersprechen. Es ist ja kein Zufall, dass ausgerechnet jemand wie Macron zur Lichtgestalt aufsteigen konnte. Wir haben das Thema im Rahmen meiner Serie zu Glanz und Elend der Sozialdemokratie ja bereits einmal durchdekliniert. Möglich, dass der klassischen Linke tatsächlich der Dampf ausgegangen ist, wo es ironischerweise die Konservativen geschafft haben, sich zu erneuern. Eben auch ein Zeichen jenes Pragmatismus. Ich würde aber an deiner Stelle nicht zu sehr in Siegestaumel verfallen. Die Konservativen schicken sich gerade an allen Fronten an, den Untergang der Sozialdemokratie nachzudeklinieren. Eine konservative Kanzlerin hat, teils gegen die eigene Wählerschaft und Parteibasis, notwendige Änderungen durchgesetzt. Und alles, was jener Parteibasis und Wählerschaft einfällt, ist ein Zurück zu den Rezepten und Debatten der 1980er Jahre. Homoehe ja oder nein. Deutschland Einwanderungsland ja oder nein. Und so weiter.
Auf der Linken sehen wir gerade einen Kampf an mehreren Fronten. Die klassische Sozialdemokrate versucht, ihre fortbestehende Relevanz unter Beweis zu stellen (nicht sehr erfolgreich). Die - ich nenne sie einfach mal so - demokratisch-sozialistische Linke hofft, sie zu beerben, und endlich, vom Ballast der Zentristen und Reformer befreit, zu den Wurzeln zurückzukehren oder aber endlich dahinzukommen, wohin man schon immer wollte (Corbyn, Sanders, Lafontaine). Das klappt in manchen Ländern deutlich besser als in anderen. Und dann gibt im weitesten Sinne sozialliberale Bewegungen, die ebenfalls das Erbe antreten wollen; das sind etwa die Grünen Parteien, die Piraten, das sind die Democrats, das ist in einer gewissen Weise Macron. Das Gute ist, dass sich nirgendwo eine neokommunistische oder neostalinistische Linke abzeichnet, zumindest noch nicht.
Der Rechten könnte so was durchaus noch bevorstehen. Die Libertären bzw. Liberalen dürften ziemlich eindeutig eine kleine, aber einflussreiche Gruppe bleiben (so sich überhaupt auf der Rechten einordnen lassen, das geht in den USA etwa deutlich besser als in Deutschland). Aber der Kampf zwischen Reaktionären und Konservativen ist noch lange nicht entschieden, und was uns in Deutschland bisher erspart blieb, wofür es aber keine fortgesetzte Garantie gibt, ist eine Partei auf der Rechten, die sich christlich-fundamentalistisch gibt (also so was wie die PiS oder die Republicans) und dadurch ganz neue Überlappungen erlaubt.
Ich denke, und das könnte auch der Versuch eines Fazits sein, dass das gesamte politische System effektiv seit dem Fall des Ostblocks in Bewegung gekommen ist. Vielleicht sehen wir gerade so etwas wie den Höhepunkt dieser Entwicklung, bevor sich alles erneut auf zwei grundsätzlichen Achsen stabilisiert. Vielleicht ist es auch erst der Anfang. Vielleicht kommt auch eine Totalzersplitterung oder ein genereller Untergang des liberal-demokratischen Systems. Wir leben in interessanten Zeiten, und interessante Zeiten sind immer gefährliche Zeiten.
Stefan Pietsch: Eine stabile Demokratie lebt von einem gut austarierten politischen System, das alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen abbildet. Der Niedergang der Sozialdemokratie hat in maßgeblichen Demokratien wie Italien, den Niederlanden und Deutschland eine Lücke gerissen. In Frankreich und Griechenland wurde der Ausfall von PS und PASOK gut kompensiert, während in Spanien und Österreich die Mitte-Links-Parteien ihre Stellungen halten konnten. Dennoch habe ich den Glauben verloren, dass sich die Sozialdemokratie im Kern Europas nochmal erholen könnte.
In Deutschland hat sich die Union so verschoben, dass sie sicher bis Mitte des kommenden Jahrzehnts die einzige kanzlerfähige Partei sein wird. Sie stabilisiert das Bürgertum und bildet das System, um die die anderen Parteien kreisen. Die spannende Frage wird sein, wie sich bis 2030 das politische System anpassen wird, wenn die demographischen Veränderungen neue Milieus herausbilden werden. Eine wachsende Schicht von Alten, die einen vermögend, die anderen ärmer. Immer mehr bestens ausgebildete junge und mittelalte Menschen mit wahrscheinlich deutlich höheren Realeinkommen als jetzt stehen einem stärkeren Prekariat gegenüber. Und die Herausforderungen durch den Klimawandel werden Wirtschaft und Gesellschaft verändern, das Thema bildet möglicherweise die Haube über dem politischen Treibhaus.
In dieser neuen Gemengelage erscheint die Zukunft von SPD, LINKE und AfD höchst unsicher, Grüne und Liberale könnten weiter wachsen. Die Konservativen haben in den meisten westlichen Demokratien die Herausforderungen zur Veränderung und Anpassung angenommen. In Deutschland will niemand in der Union zurück zu den Zeiten um die Jahrtausendwende, da hilft der angeborene Pragmatismus des Bürgertums, den der Konservatismus immer am besten abzubilden wusste.
Stefan Sasse: Ja, das scheint mir die Trennlinien ordentlich zu umreißen. Ich denke wir kommen beide am selben Ende heraus: Wir erkennen die Bedeutung unserer jeweiligen Gegner für das Gesamtgefüge. Aber keiner von uns beiden wäre unglücklich, würde dieser seine Rolle aus der Opposition heraus ausüben. In diesem Sinne: Danke für das Gespräch!
Stefan Pietsch: In Deutschland stand wegen seiner Geschichte der Begriff des Rechten lange auf dem Index. Erst allmählich ist eine Einteilung, wie sie in den meisten Demokratien üblich ist, auch bei uns akzeptabel. Persönlich geben mir solche Definitionen wenig, im Politikstudium wird klassisch von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus gelehrt. Die drei Grundrichtungen der politischen Einstellung gibt es jedoch höchst selten in Reinkultur. Als Kind eines sozialliberalen Elternhauses war ich lange dem SPD-Spektrum zugeneigt, doch die, ja, Rücksichtslosigkeit gebenüber den zutiefst menschlichen Aspekten des Miteinanders hat mich zu jemanden werden lassen, der sich als liberal-konservativ bezeichnet.
In meiner Wahrnehmung gibt es zwei Typen von links gestrickten Menschen. Da ist der Typus Steinbrück, Gerhard Schröder oder für die noch älteren Semester Klaus von Dohnanyi, die das Edle und Aufrechte der linken Szene verkörpern. Leider stirbt dieser politische Schlag zunehmend aus. An seine Stelle tritt eine Melange aus idealistisch gesinnten Altkadern wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn, denen jede Eleganz abgeht, welche aber die Sehnsüchte lebensunerfahrener junger Menschen bedienen. Und es gibt eine neue Bohème im Gefolge der Grünen, die einen seltsamen Protetantismus von Verboten und strengen Geboten pflegen, das Ideal eines modernen Menschen entwerfen, der aber wie in jeder Religion nur die wenigsten zu folgen vermögen. In dieser atheistischen Version des guten Menschen avanciert jeder, der nicht zumindest in Teilen vegan lebt, sich nicht sofort nach genderneutraler Bezahlung erkundigt und armen Migranten nicht sofort mit offenen Armen begegnet, zu einem subversiven Subjekt des Ewiggestrigen.
Ich sprach anfangs von den menschlichen Aspekten, die heutige Linke nicht selten ausblenden und erwähnte bereits früher, dass in diesen Milieus Begriffe wie Eigenverantwortlichkeit, Vertrauen und Glaubwürdigkeit sowie Rechtsstaatlichkeit auf einem imaginären Index stehen. Weder finden sich diese Worte in politischen Reden, noch werden sie in Diskussionen als Grundlage allen überhaupt nur registriert. Doch ohne diese Eigenschaften und Regeln ist ein ziviles Zusammenleben nicht möglich.
Stefan Sasse: Die Begriffe "links" und "rechts" sind, wie du richtig erkenntst, nicht übermäßig aussagekräfigt. Ich verwende für Standortbestimmungen daher auch häufiger die Achse "progressiv <----> konservativ", und habe als Alternative einmal vorgeschlagen, "offen" und "geschlossen" zu verwenden. Denn die Überlappungen innerhalb der Lager sind ja oft die Crux an der Geschichte. Wenn etwa die LINKE die NATO und die EU ablehnt, und die AfD das auch tut - ist das dann links oder ist es rechts? Aus dieser Verwirrung kommen ja dann auch diese Blödsinnsargumentationen wie dass die NSDAP in Wahrheit eine linke Partei sei, oder ähnlicher Käse.
Dazu kommt die verbreitete Neigung, dem Lager, dem man selbst zuneigt, positive Eigenschaften zuzuschreiben. Du machst das ja in deinem Eingangsstatement ähnlich: Es gibt zwei Arten von Linken, die mit denen du wenigstens teilweise übereinstimmst (die Guten) und die, die du ablehnst (die Schlechten). Und das ist völlig normal, weil die Begriffe eben nicht eindeutig geklärt sind.
Ich selbst sehe mich beispielsweise auch nicht als links. Das liegt vermutlich daran, dass mit dem Wort ein gewisser Ballast an Positionen mitkommt, die ich nicht teile, ähnlich wie das bei dir und Erwin Gabriel mit dem Begriff "rechts" der Fall ist. Du hast allerdings damit recht, dass "rechts" im politischen Diskurs gerade enttabuisiert wird. Wir sind noch nicht so weit, dass die CDU sagen könnte, sie wolle nach rechts rücken, aber der Begriff braucht nicht mehr die heißen Beißzangen wie früher.
Vielleicht sollten wir daher damit beginnen, eine Art Konsens zu schaffen, was unzweifelhaft unter rechts und links fällt. Und das ist in meinen Augen nicht viel. Ein grundlegendes Bekenntnis zum Sozialstaat etwa findet sich in beiden Lagern. Individualismus gegen Kollektivismus lässt sich auch nicht nutzen, weil links wie rechts kollektive Ideen haben (auf der Rechten im Rahmen von "Volk", auf der linken eher klassenorientiert). Auch eine Schiene von national vs. international ist wenig aussagekräftig.
Am ehesten scheint mir daher eine Teilung bei den Werten möglich zu sein, womit wir wieder in der Schiene "progressiv vs. konservativ" sind. Auf der Rechten ist man eher am Traditionellen ausgerichtet, am Althergebrachten, am Natürlichen, am Bewährten. Auf der linken sieht man die aktuelle Gesellschaft als defizitär und versucht, sie zum besseren zu ändern. Beide sehen ihre jeweiligen Werte als Bedrohung; die Rechte sieht in den linken Vorstellungen eine Gefährdung der natürlichen Ordnung, während linke eine Tradierung unterdrückerischer Systeme sehen. Aber sonderlich konkret ist das alles nicht. Wie siehst du auf diese Thematik?
Stefan Pietsch: Jede politische Standortbestimmung hat so ihre Tücken. Parteien wie die LINKE und die AfD sind in Teilen eher reaktionär, wenn in Programmatik und Vorstellungen Verhältnisse angestrebt werden, die vielleicht vor Jahrzehnten gegeben waren. So sind für mich Ideen von einem völligen Verbot der Abtreibung, von einer kulturell homogenen Gesellschaft oder von Spitzensteuersätzen von 60, 70 Prozent nebst Rückkehr zum Anrechnungsverfahren schlicht reaktionär. Alle diese Positionen sind auf die Restauration vergangener Verhältnisse gerichtet. Der eine wird manchem zustimmen und anderes vehement ablehnen, aber das Merkmal bleibt.
Dann gibt es jedoch andere Themenfelder, wo sich Positionen nur mit dem klassischen Schema des Konservativen, Liberalen und Sozialistischem umschreiben lassen. Der Schutz ungeborenen Lebens scheint eher ein konservatives Merkmal zu sein, die Berechnung des potentiellen Steuerbetrages allein vom Existenzminimum aus dagegen etwas eindeutig sozialistisches. Was folgt daraus? Deine Vorschläge ergänzen das Schema ohne das Alte vollständig ersetzen zu können.
Ich finde die Einteilung in Links und Rechts nicht grundsätzlich falsch und auch nicht die Zuschreibung auf Personen. Menschen wollen Orientierung und solche Schemata bieten diese. Unter der politischen Gesäßgeographie können sich die meisten etwas vorstellen und seien es voreingenommene Bilder. Das gilt nicht für Einteilungen wie „progressiv“ und „nicht-progressiv“, das ist etwas für politologische Seminare. Deswegen habe ich kein Problem, mich heute unter rechts einzuteilen, obwohl ich mich in der Mitte der Gesellschaft stehend empfinde. Demoskopische Erhebungen, die ich von Zeit zu Zeit ausfülle, überraschen mich. Entgegen der eigenen Erwartung befinde ich mich nur mit einem Teil meiner Ansichten in der Minderheit, mit anderen in der Mehrheit. Das wird den meisten so gehen.
Was macht also jemanden zum Rechten? Ein typisches und gleichzeitig klassisches Merkmal der Unterscheidung ist das Maß der Überwachung, das der politisch Interessierte dem Staat zubilligt. Während Rechte im Bereich Sicherheit, Migration, Internet und sozialer Sicherheit nach der Allgegenwart des Staates rufen und sich in wirtschaftlichen Fragen libertär verhalten, findet sich das Spiegelbild dazu auf der Linken. Beide Seiten haben also ein ambivalentes Verhältnis zum Staat und seinen Aufgaben. Als liberal geprägter Mensch stehe ich libertär zu beiden Seiten und bin daher nicht klassisch rechts. Ich halte nichts davon, Menschen Vorschriften über ihre Lebensweise zu machen oder Sozialhilfeempfänger zu überwachen.
Allerdings, und da bin ich eindeutig konservativ, glaube ich an die Stabilität von zwischenmenschlichen Beziehungen. Eine Gemeinschaft besteht nicht nur aus Rechten, sondern auch aus Pflichten, die sich nicht in Gemeinschaftszahlungen erschöpfen. Wenn Menschen andere schädigen – durch schlechte Erziehung, durch Abtreibung, durch Ausnutzen von sozialen Regelungen – braucht es staatliche Korrektive. Diese bestehen in Prüfungspflichten für Minderjährige, für abtreibungswillige Schwangere und Budgetzuteilungen für Transferempfänger. Und ich muss küssende schwule Paare nicht, sagen wir, ästhetisch finden ohne ihnen trotzdem emotional das Recht zuzugestehen, so zu leben.
Stefan Sasse: Ich möchte das alte Schema auch eher ergänzen als ersetzen. Ich stimme dir außerdem in deiner Unterscheidung von reaktionär und konservativ absolut zu. Auch deine eigene politische Standortbestimmung zeigt die Grenzen des Systems und dass es ergänzende Metriken braucht. Wahrscheinlich muss die Rechts-Links-Achse für jedes Themengebiet einzeln benannt werden. Etwa wie du es bei den Fragen der Freiheitsrechte tust. In manchen Fällen verbitten sich die Linken jede Einmischung des Staates, in anderen die Rechten, und umgekehrt finden Linke in manchen Bereichen starke Regulierungen völlig in Ordnung, während in gegenteiligen Fällen die Rechten sich wünschen, dass der Staat aggressive Einmischung betreibt. So etwas wie Abtreibung ist ein wunderbares Beispiel, wo diese Grenzlinien verlaufen, oder umgekehrt eine Frage wie die Zuckersteuer oder so was.
Ich denke dass es wichtig ist, dass wir diese Spektren klar voneinander abgrenzen. In dieser Sichtweise wäre quasi der Wunsch nach Stabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, wie du das so schön formulierst, konservativ, während ein Verbot von Abtreibung und eine Einschränkung der Frauenerwerbstätigkeit reaktionär wären. Was hältst du denn für die Gegenstücke auf der Linken?
Stefan Pietsch: Das Thema Abtreibungen wird auch von konservativer Seite von verschiedenen Werten überlagert, insbesondere die christliche Sicht auf den Lebensschutz. Ich kenne Konservative, die, z.B. Frauen, eine liberale Einstellung zum Abtreibungsrecht vertreten, dafür aber Familie sehr hoch hängen. Das Gegenstück auf linker Seite wird derzeit in einiger Vehemenz debattiert. So treten maßgebliche Vertreter der Democrats wie die deutschen Jusos in Gänze dafür ein, Abtreibungen bis zur Geburt zuzulassen. Eine solche Haltung geht weit über jeden Common Sense hinaus. Das ist extremistisch und gleichzeitig bedauerlich, dass Linke sich davon nicht distanzieren.
Aber im Allgemeinen haben viele Rechte heute mit der Linken das Problem, dass sie die andere Seite schlicht als weltfremd und idealistisch empfinden. Anders als zu früher geht es nicht mehr um Werte, sondern der Glaube, im Besitz der endgültigen Wahrheit zu sein. Die von mir zu Beginn genannten Sozialdemokraten waren noch Zweifelnde, welche des öfteren die Erfahrung gemacht hatten, falsch zu liegen. Viele Vertreter der Grünen, Aktivisten von Grundeinkommensbefürwortern bis zur neuen Klasse der "Fridays for Future"-Bewegung sind keine Zweifelnden mehr, sondern moderne Kreuzritter, bereit, jeden zu bekehren oder an den öffentlichen Pranger des Wahrheitsleugners zu stellen. Ein alter Sozialdemokrat dieser Tage schrieb hier vor kurzem: Bedenke, dass der andere möglicherweise Recht haben könnte. Eine solche Zurückhaltung stirbt auf der Linken zunehmend aus und es verwundert mich daher nicht, dass der klassische Bereich des Linken schrumpft.
Am Ende ist es diese Selbstgewissheit gepaart mit der moralischen Herabwürdigung des anderen, die heute viele Menschen von Rechts bis zur Mitte abstößt. Was für die moderne Linke das verbindende Element ist, isoliert sie auch. Und wie jede ins Extreme neigende Ideologie geht die moderne Linke über die gravierenden inneren Widersprüche hinweg, negiert sie. Ein Beispiel: Inspiriert vom emanzipatorischen Ansatz wird das Weibliche als die überlegende Lebensform dargestellt, dem wegen paternalistischer Strukturen der gesellschaftliche Siegeszug, die Übernahme von politischen Ämtern und Unternehmensposten verwehrt wird. Doch warum das Weibliche dann doch zum Opfer wird, wenn es doch so überlegen ist, das wird mit einer Generalnorm weggewischt. Dass eventuell die Mehrheit der Frauen andere Lebensmodelle bevorzugt als ihre Vordenkerinnen propagieren, kommt nicht vielen auf der Linken in den Sinn. Für mich als Liberal-Konservativen bildet da die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder ein angenehmes Gegenstück.
Stefan Sasse: Es gibt aber auch gerade in den USA genug Konservative, eine extremistische Anti-Haltung zum Abtreibungsrecht vertreten. - Aber geschenkt, wir reden von Deutschland. Ich finde Begriffe wie "common sense" (oder "gesunder Menschenverstand") problematisch, gerade bei ethischen Fragen. Was heute common sense ist, kann in zehn Jahren schon als rückwärtsgewandt gelten - oder als irre. Je nachdem.
Was deine "ich könnte falsch liegen"-Einstellung angeht, stimme ich dir völlig zu, dass das ein positiver Zug ist. Aber deine Beispiele sind merkwürdig. Kristina Schröder etwa fällt dir ja weniger positiv auf, weil sie Raum für Fehler lässt, sondern weil sie deine Meinung abbildet. Denn Selbstgewissheit, gepaart mit moralischer Herabwürdigung, ist wahrlich kein linkes Alleinstellungsmerkmal. Oder muss ich dich an zahlreiche herablassend-moralisierende Kommentare deinerseits über die Haltung von Linken zu Schulden und Wirtschaftspolitik erinnern, in der du mit der Aura der Unfehlbarkeit (dank ausufernder Erfahrung in Führungspositionen) die Welt erklärst? Es ist en vogue, uns Progressiven das Moralisieren vorzuwerfen, aber sowohl Liberale als auch Konservative können das auch sehr gut selbst. Ihr kleidet es halt nur in "common sense".
Aber ich fürchte, wir treten gerade abseits des eigentlichen Argumentationspfads. Was ich für einen wichtigen Diskussionspunkt halte ist weniger, warum wir Progressiven aus deiner Sicht und ihr Konservativen aus meiner Sicht falsch liegt, sondern wo die akzeptablen Grenzen liegen. Denn wir lehnen zwar gegenseitig unsere fiskalpolitischen Einstellungen ab, sind uns aber glaube ich einig darin, dass sie vertretbare politische Positionen darstellen. Sowohl eine stärker kreditfinanzierte staatliche Investitionspolitik als auch eine eher den Prinzipien des Ordoliberalismus verhaftete Wirtschaftspolitik sind ja ohne Systemwechsel durchsetzbar.
Gleiches gilt auch für das Abtreibungsrecht. Wenn es eine Mehrheit für Abtreibungen bis in den zehnten Monat gäbe, würde die Bundesrepublik nicht in ihren Grundfesten erschüttert, und wenn man sie auf die ersten sechs Wochen beschränkte auch nicht (auch wenn wir beide das sicherlich ablehnen würden). Wo also liegen die Grenzen dessen, womit man sich rechts wie links noch innerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegt?
Stefan Pietsch: Ich denke die wenigsten Rechten, wenn ich das an dieser Stelle als Sammelbegriff für Konservative und Liberale nehme, empfinden sich ob ihrer politischen Haltung und moralischen Werte als bessere Menschen. Das jedoch wurde mir so schon des Öfteren in Blogs von Linken entgegen geschleudert. Und auch die den Grünen zugeneigten Milieus kommen gerne mit dem moralischen Impetus.
Ich werfe jungen Menschen nicht vor, dass sie wenig Lebenserfahrung haben. Ebenso wenig wie ihren Idealismus. Der ist so notwendig wie die Erfahrung der Alten. Ohne Idealismus und Enthusiasmus wäre unsere Welt arm. Doch es gibt zwei Verhaltensweisen, die nicht allein in Debatten besonders ärgerlich sind, das Diskutieren ohne Rücksicht auf Geschichte und Ignoranz. Auch Neoliberale entziehen sich nicht der Logik und Evidenz von Keynes' Konjunkturtheorie. Es gab in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte zahlreiche Versuche, diese anzuwenden und sie waren weitgehend erfolglos. In den Siebziger und Achtzigerjahren bauten sich so erhebliche Staatsdefizite auf, die liberalen Verschuldungsregeln des Grundgesetzes wurden oft gebrochen. Die Schuldenbremse ist das Ergebnis dieser Erfahrungen. Wer also daran auch nur argumentativ rütteln will, muss Sicherheiten bieten, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Doch kein Linker lässt sich nur ansatzweise auf solche Schlussfolgerungen ein.
Ich schätze an Kristina Schröder das, was ich generell an Menschen schätze. Sie war ein Vorbild als Ministerin (Dienerin). Gemäß ihrem gesetzlichen Auftrag und der Koalitionsvereinbarungen exekutierte sie den politischen Willen der Regierungsspitzen, selbst gegen eigene Überzeugungen. Entsprechend ihren Überzeugungen ging sie aus der Politik und widmet sich heute auch der Erziehung ihrer Kinder. Eine Frau mit Haltung, unaufdringlich und Gemeinschaftssinn wie Verantwortungsgefühl.
Deine Frage lässt sich kaum beantworten. Das Grundgesetz lässt der Politik so viel Spielraum, weil dessen Väter nicht absehen konnten, wohin sich die Weltläufe entwickeln würden. Demgemäß haben beide Seiten ein großes Feld, wo sie sich austoben könnten. Das reicht jedoch extremistisch veranlagten Parteien wie der AfD und den LINKEN nicht, die in einem gewichtigen Teil ihrer Ideen nicht ganz auf dem Boden der Verfassung stehen oder sie leichter Hand schlicht ignorieren. Nein, ich glaube so nähern wir uns nicht der Unterscheidung. Nach meinem Dafürhalten lassen sich Links und Rechts heute weniger durch einzelne politische Positionen, sondern durch generelle Haltungsfragen abgrenzen, so welche Bedeutung der Eigenverantwortung eingeräumt wird. Siehst Du darin einen Ansatzpunkt?
Stefan Sasse: Du argumentierst letztlich, dass das Beharren auf Begrenzung der Schulden ökonomischer Rationalität entspricht, aber gleichzeitig ist es immer auch moralisch aufgeladen. Ich habe kein Problem damit wenn du mir sagst, dass ich moralisch argumentiere (und für mich in Anspruch nehme, die richtige Moral zu vertreten; wäre man nicht von der Richtigkeit der eigenen Moral überzeugt, hätte man sie ja nicht). Was mich stört ist die Behauptung, dass NUR die Linke moralisch wäre. Und eine Variante davon scheint mir auch die Vorliebe für Schröder hier zu sein. Haltung hat auch Lafontaine. Du magst Schröders Haltung halt. Das ist ja völlig ok. Ich habe witzigerweise auch mal zwei Loblieder über sie geschrieben, damals 2010/2011, bevor ich bemerkt habe, dass sie falsch lag. Da bewunderte ich sie für dasselbe wie du. - Aber das ist mal wieder eine Stilkritik.
Das Grundgesetz hatte auch Mütter, wenngleich nicht viele ;) Ich denke wir sind uns einig beim Spielraum, den das Grundgesetz einräumt. Der ist grundsätzlich hoch, und sicherlich höher, als es im öffentlichen Diskurs jeweils behauptet wird. Ich hasse das Argument, dass das Grundgesetz diese oder jene Politik ausschließe, immer mit Verweis auf die ersten 20 Artikel, als ob man das daraus so einfach ableiten könnte! Aber ja, sowohl LINKE als auch AfD operieren in manchen Bereichen ziemlich an den Rändern dieses Spielraums herum. Insgesamt aber sind beide Parteien (noch) innerhalb des Konsenses, zumindest überwiegend.
Und damit kommen wir zur Unterscheidung. Ich sehe die Eigenverantwortung definitiv als ein Unterscheidungsmerkmal, aber ich tue mich schwer, es für die Links-Rechts-Unterscheidung zu nutzen. Das ist eher was, was die Liberalen vom ganzen Rest abhebt. Sozialdemokraten, Sozialisten und Grüne auf der einen und Konservative und - wie nennen wir sie? Illiberale Demokraten, à la Orban? - auf der anderen Seite sind sich ja durchaus ähnlich in der grundsätzlichen Einschätzung, dass die Gesellschaft eine gewisse Rolle spielt und die Eigenverantwortung innerhalb dieser Gesellschaft ihre Grenzen und Stützen findet. Bei Konservativen ist das eher die Familie, weiter rechts außen das "Volk", auf der linken sind es verschiedene Formen des Staatswesens und der Gesellschaft als nebulösem Ganzen (Stichwort "Solidarität"), die da entsprechend begrenzend wirken. Die einzigen, die wirklich alle diese Aspekte ablehnen, sind die Liberalen, und die waren immer schon nur eine Splittergruppe. Und da fangen wir noch gar nicht von den inhärenten Widersprüchen an, die etwa Monopolisierung und Kapitalakkumulation und die Fortschreibung von Klassenprivilegien da haben; aber das führt zu weit. Als Rechts-Links-Unterscheidung alleine finde ich es aus diesen Gründen eher problematisch.
Ich denke ergiebiger ist da zu schauen, wer als Teil der In-Group definiert wird. Ich habe ja oben bereits anklingen lassen, dass auf der Rechten eher national-ethnische Kriterien vorherrschend sind (weswegen sich die CDU ja auch mit der Migrationsrechtsreform und den Flüchtlingen so schwer tut), während auf der Linken eher klassen- und solidaritätsorientierte Aspekte vorherrschen, à la "du gehörst zur Gruppe wenn du dich zugehörig fühlst", was im anderen Extrem dann wieder sehr beliebig und schwammig werden kann. Was denkst du über diese Achse? Es wäre auch eine, auf der die Liberalen tatsächlich ziemlich genau in der Mitte sitzen, was dir attraktiv sein dürfte. ;)
Stefan Pietsch: Wir scheinen Konsens zu haben, was die Bewertung der AfD und der LINKEN an den Polen des alten Spektrums betrifft. Die LINKE operiert mit ihren steuerpolitischen Vorschlägen und Enteignungsfantasien so an den Grenzen der Verfassung, dass im Falle der Umsetzung über jeden Eingriff in Karlsruhe entschieden werden müsste. Schon das ist für einen bürgerlich denkenden Menschen eine absolute Absurdität. Und eine Partei, die deutsche Staatsbürger im Ausland entsorgen möchte, ist ohnehin nicht von dieser Verfassung.
Das rechte Bürgertum hält Moral mehrheitlich für keine Kategorie der Politik, wertbasiert dagegen schon. Konservative wie Liberale vertrauen auf Regeln des Zusammenlebens, weswegen Tabubrüche so unbeliebt sind. Aber Deine Namensnennung bringt mich auf einen sehr guten Vergleich, der gravierende Unterschiede zwischen Links und Rechts deutlich macht. Zwei Politiker, der eine ein sogenannter Wertkonservativer, der andere ein moderner Linker. Ihre gemeinsame Geschichte beginnt im Jahr 1990, als beide im Abstand von weniger als 6 Monaten Opfer eines Attentats werden.
Es ist klar, von wem die Rede ist. Wolfgang Schäuble hat den Großteil seines politischen Lebens in der gestaltenden Politik zugebracht, er hat gedient, er hat sich zurückgenommen, obwohl er der talentierteste Politiker seiner Generation in der CDU war. Er hielt seine Partei nach dem Machtverlust zusammen und stützte auch die Regierung in einer die Grundfesten des Konservativen berührende Frage in der Eurokrise. In einer Frage von Moral hat er sich für seine Werte entschieden, als er mit dem spendenumwitterten Altkanzler Helmut Kohl brach. Niemand hat je bezweifelt, dass dies aus zutiefst moralischen Gründen geschah.
Auf der anderen Seite Oskar Lafontaine, der immer der populistische Oppositionspolitiker blieb, wo die Geschichte immer hinterher passt. Seinen ersten Landeswahlkampf führte er gegen die damals aufstrebenden Grünen, in dem er sich, mit dem populären Umweltpolitiker Jo Leinen an seiner Seite, als der bessere Grüne gerierte. Fünf Jahre später war die Sache anders, damals machten die rechtsextremen Republikaner Furore und der saarländische Ministerpräsident wandelte sich zu einem Nationalisten light. Er stürzte nicht nur fulminant einen taumelnden Parteichef, sondern half bei der Zerstörung gleich zweier linker Parteien tatkräftig. Sowohl der Niedergang der SPD wie der der LINKEN sind mit dem Namen Lafontaine verbunden. Vor seinem spektakulären Rücktritt im Frühjahr 1999 machten Gerüchte die Runde, er wolle den eigenen Kanzler in die Resignation treiben. Als er den Dienst nach wenigen Monaten quittierte, in denen er die halbe Welt gegen sich aufgebracht hatte, erklärte er sich nicht der Öffentlichkeit. Erst später kamen Behauptungen auf, er sei unter anderem wegen der Kriegspolitik der Regierung zurückgetreten. Zweifel sind erlaubt, kein Kabinettskollegen von damals kann sich an entsprechende Äußerungen diesbezüglich vom Finanzminister erinnern.
Das sind Haltungsfragen. Rechte akzeptieren die Brüche des Lebens eher. Dick Cheney haderte nicht mit der Homosexualität seiner Tochter, er hielt sie aus der Politik heraus. Linke neigen nicht selten dazu, nachträglich Brüche zur Konsequenz zu erklären. Ein typisches Muster dafür zeigt sich in der Annexion der Krim. Erst wird geleugnet und nachdem Fakten geschaffen sind, wird die unmoralische Tat zur wertorientierten Konsequenz verklärt.
Damit sind wir bei einem weiteren Vorhalt: anders als Du es darstellst, hat die Linke den Begriff der Solidarität gekapert und ihn in sein Gegenteil verkehrt. Sowohl Begriff als auch das gemeinte Verhalten stammen aus dem bürgerlichen familiären Empfinden. Familienmitglieder stehen füreinander ein, aber werden auch in dem Verbund diszipliniert. Jede familiäre Solidarität hat ihre Grenzen. Für die Linken zählt die Familie wenig bis nichts, das Ideal ist der alleinlebende Individualist und jeder vermeintlich Bedürftige oder Benachteiligte genießt die grenzenlose gesellschaftliche Solidarität der Gemeinschaft, finanziert nach dem Robin Hood-Prinzip. In einem solchen System muss jede Frage nach Eigenverantwortung zwangsläufig untergehen. In öffentlichen Debatten lebt die Linke von der ewigen Putzfrau, die trotz Fleiß keinen Lebensabend in Würde verbringen kann – so als würde der Wohlstand der Nation von fleißigen Putzfrauen abhängen, die es natürlich in Afrika nicht gibt. Und auf der anderen Seite wird gefallenen öffentlichen Personen des Bürgertums wie Uli Hoeneß oder zu Gutenberg nicht geglaubt und diese ins Feuer der ewigen Verdammnis geworfen.
Stefan Sasse: Wo liegt denn der Unterschied von "Moral" und "Wert"? Das ist doch pure Semantik. Und ich bin wahrlich kein Lafontaine-Fan (mehr), aber die negative Art, wie du ihn darstellst, könnte ich sicherlich auch auf Wolfgang Schäuble umlegen. Der Mann hat immerhin Schmiergelder persönlich im Aktenkoffer entgegengenommen; wenn das die überlegende Wertebasis der Konservativen ist, weiß ich auch nicht. Vielleicht akzeptieren wir einfach, dass diese Zuschreibungen auf unseren Präferenzen beruhen und weniger auf objektiv feststellbaren Charaktermerkmalen? "Politiker X ist ein Musterbeispiel für Moral/Wertebasis, weil ich mit seinen/ihren Positionen übereinstimme" ist schließlich letztlich eine Nullaussage.
Ich kann daher natürlich auch deine Invektive gegen "die Linken" so nicht akzeptieren, und ich könnte leicht eine über Konservative schreiben. Aber wozu soll das führen? Ob es jemals eine "reine" Form des Begriffs der Solidaridät gab, der von der Linken auf gemeinste Weise gekapert und missbraucht wurde, ist für unsere Zwecke reichlich irrelevant. Der Begriff hat eine neue Bedeutungsebene angenommen, und die Bruchlinien zwischen beiden Seiten sehen wir ja beide - auch wenn wir uns naturgemäß in der Bewertung uneins sind.
Aber das ist ja grundsätzlich in Ordnung. Ich würde vielleicht noch eine andere Stoßrichtung dieser Debatte eröffnen. Man erkennt denke ich die gemäßigte Rechte und Linke auch daran, inwiefern sie Siege der anderen Seite anzuerkennen bereit sind. Die Beispiele aus der bundesrepublikanischen Geschichte sind ja hinreichend bekannt: Marktwirtschaft und Westbindung werden von der SPD, die Reformen der 1970er Jahre (wie das Betriebsverfassungsgesetz, das Scheidungsrecht u.v.m.) und die Ostpolitik von der CDU anerkannt und als Basis genutzt. Ein wichtiger Bestandteil ist die grundsätzliche Akzeptanz der Legitimität des politischen Gegners. Wir mögen uns ständig bei bestimmen Themen in die Haare kriegen, aber wir akzeptieren das Ergebnis des demokratischen Prozesses. Die Ränder tun das nicht; hier gelten dann "Meinungsmache", "Lügenpresse", "Korruption" oder "Verrat" als Merkmale dafür, dass der "wahre Volkswille" (den natürlich nur der jeweilige populistische Rand fehlerfrei zu lesen in der Lage ist) hintergangen wurde.
Stefan Pietsch: Meiner Ansicht nach führt Dein Aspekt der Anerkennung gegenseitiger Erfolge nicht weit. Schließlich hat das zum einen eher mit Realpolitik zu tun, zum anderen steckt dahinter auch viel Legende. Und wir sollten den Fokus nicht nur auf Deutschland und die USA richten. So führtest Du vorher an, das Nationale sei ein Merkmal der Rechten und übersiehst dabei, dass Linke sich vom griechischen Premier Tsipras über die italienische 5-Sterne-Bewegung bis hin zu Mélenchon stark nationaler Elemente bedienen. Die Linke scheint immer zwischen Extremen zu pendeln.
Wie erklärst Du Dir, dass dem linken Lager seit 1990 die Wähler davonlaufen und die Zugewinne wie idealistisch gesinnte Jugendliche diese Verluste nicht ausgleichen konnten? Wie ist zu bewerten, dass die Linke in der westeuropäischen Geschichte gefühlt 20% der Zeit regiert hat und die politische Rechte die natürliche Regierungswahl ist? In Frankreich konnten die Sozialisten gerade 3 Regierungszeiten den Präsidenten stellen, und bevor sich die Wähler für Macron entschieden, war der Konservative François Fillon der natürliche Nachfolger, der trotz Skandalen 20% im ersten Wahlgang erreichte. Daran setzte ich mit meinem Vergleich an: Lafontaine gefiel sich im politischem Leben als derjenige, der es hinterher besser wusste, während Rechte sich bewusst sind, im Handeln sich auch die Hände schmutzig zu machen. Nebenbei: der Vorgang über die Spendenannahme ist bis heute umstritten.
Werteorientierung findet sich nach Innen, die Moralmonstranz nach Außen. Es gibt Zeitgenossen, die wegen ihrer inneren Überzeugungen auf einen SUV als motorisierten Untersatz verzichten. Das ist ehrbar und niemand stört sich daran, für manche ist das genau ein Antrieb. Der Moralgetriebene klagt die Gesellschaft an, wie überhaupt die Mitmenschen noch Auto fahren können angesichts der verherrenden Schäden. Die Linke ist durchsetzt von letzterem und jedes Verhalten und jede Entscheidung muss moralisch überhöht werden. Dabei sind die Beispiele Umweltschutz, Rente, Mindestlohn, Besteuerung völlig austauschbar. Am Wohlsten, das hat der Parteitag der SPD zur Europawahl wieder gezeigt, fühlen sich Linke, wenn sie, losgelöst von realen Verhältnissen, Forderungen in die Welt setzen können. Im Nationalen zählt hierzu zweifellos die Debatte um eine Mindestrente. Doch der Slapstick schlechthin war für mich, als 2015 Tspiras in Griechenland sich erst ein Wählervotum holte, keinesfalls einschränkenden Reformen sein Placet zu geben, um binnen Wochenfrist von den EU-Partnern eingenordet zu werden.
Noch zu den eingangs erwähnten Legenden: die Linke klebt bis heute an der Geschichte, die von Willy Brandt eingeleitete Entspannungspolitik sei ursächlich für die Auflösung des Ost-West-Konflikts. Historisch ist das nicht haltbar. Weder haben die Greise im Politbüro der KPdSU aus Altersweisheit und Zeichen der Entspannung Michail Gorbatschow ins Amt des Generalsekretärs gehievt, noch gab Honecker die Macht ab, weil er vertrauenswürdige Partner im Westen gefunden hatte. Auf der anderen Seite haben weder Helmut Kohl noch Franz-Josef Strauß ihr Handeln so überhöht, dass Anerkennung der DDR und Millionenkredit nun den Sozialismus über die Klippe gekippt hätten.
Stefan Sasse: Dass die Ostpolitik überhöht wird ist völlig richtig, aber das ändert ja nichts daran, dass sie seinerzeit auf Seiten der Rechten fanatisch abgelehnt wurde. Die CDU war damals schnell mit dem Vorwurf des Landesverrats bei der Hand, das musst du nicht beschönigen. Die Erkenntnis, dass man sich beim Regieren die Hände schmutzig machen muss, kommt Konservativen nämlich auch auf zauberhafte Weise immer dann, wenn sie an der Regierung sind, und wird dann in der Opposition vergessen. - Aber wie gesagt, ich würde wirklich gerne versuchen, die persönliche Bewertung der Themen rauszuhalten.
Du sprichst allerdings eine tatsächliche, reale Unterscheidung zwischen Links und Rechts an, die sogar die populistischen und extremen Pole betrifft. Ich habe 2011 darüber geschrieben, dass die Konservativen sehr gut im pragmatischen Akzeptieren von Kompromisslösungen sind, und dass die Linken stets zwischen Triumph und Verrat oszillieren und dass das massiv dazu beiträgt, dass sie so wenig an der Regierung sind. Linke hassen Kompromisse. Das ist auch die größte politische Schwäche dieser Seite des politischen Spektrums. Sebastian Haffner hat bereits 1982 die gleiche Beobachtung gemacht, als er in seinem Buch "Überlegungen eines Wechselwählers" die Rechte und die Linke mit Händen eines Rechtshänders verglich: gearbeitet wird hauptsächlich mit der rechten Hand, während die linke unterstützend gebraucht wird, irgendwie so ging die Metapher. Und er endete mit der fein-ironischen Feststellung, man solle nie vergessen, dass es auch Linkshänder gibt.
Die größten Erfolge der Linken finden nie statt, wenn ideologisch reine Vertreter an der Macht sind, die Lafontaines, Bebels und McGoverns. Erfolge in Regierungsarbeit werden dann erreicht, wenn die seltene Kombination eines pragmatischen, kompetenten Linken kommt. Die Brandts, Roosevelts und Obamas. Das liegt aber auch an einer Grundmechanik dieser beiden Seiten. Linke wollen den Status Quo verändern. Das ist der Kern, das Id ihres ganzen Daseins. Konservative wollen den Status Quo bewahren. Ich meine, das ist schon im Wort. Veränderungen blockieren ist aber IMMER einfacher als sie aktiv herbeiführen. Deswegen halten Konservative problemlos 16 uninspirierte Regierungsjahre aus, solange nur alles im Großen und Ganzen stabil bleibt, während Linke häufig nach ein oder zwei Regierungsperioden völlig ausgebrannt sind und dem Irrglauben anhängen, sich in der Opposition "regenerieren" zu müssen. Das ist und bleibt die Achillesferse.
Und wie gesagt, das erstreckt sich auch auf die Ränder. Die Basis von Rechtsradikalen oder Rechtspopulisten ist wesentlich eher bereit, an die Regierung zu gehen und dort irgendwelche Ziele umzusetzen und Niederlagen zu akzeptieren als die Linke. Ich halte es für unvorstellbar, dass Bernie Sanders' Basis bereit wäre ein ähnliches Ausmaß an Niederlagen für einige symbolische Siege hinzunehmen wie Donald Trumps.
Stefan Pietsch: Die Metapher gefällt mir. Die Frage ist aber, warum sich die Linke nicht verändern kann. Es gehört zur Normalität des Lebens, dass Unterstützergruppen wegsterben oder verschwinden. So war lange das Ziel Linker, Menschen den Aufstieg zu jenen zu ermöglichen, die bereits auf dem Sonnendeck liegen. Diesen Anspruch haben linke Parteien weitgehend aufgegeben. Mehr noch: seit den revolutionären Zeiten des Jahres 1990 haben sich die konservativen Parteien gewandelt, sind zu gestaltenden Kräften geworden mit erheblichem Veränderungswillen. Während in Deutschland die SPD in den Wendejahren trotz politischer Opposition weitgehend ermattet war und keine Ideen für die Gestaltung des vereinigten Deutschlands zu entwickeln vermochte, trudelten auch die Schwestern in Spanien, Frankreich und Italien in die Agonie.
Es war die ermattete CDU, die Mitte der Neunzigerjahre lange gewachsene Probleme im Steuer- wie Sozialrecht angehen wollte. Es waren diese Konservativen, welche die europäische Integration vorantrieben und eine vorsichtige Neupositionierung der Außenpolitik angingen, wo SPD und Grüne bremsten. Wo sich Labour und Dems fragten, warum sie immer gegen die Rechten verloren, wandelte die kontinentaleuropäische Linke auf den Pfaden der Restauration. Frankreich führten in Zeiten der Cohabitation unter Premier Lionel Jospin die 35-Stunden-Woche ein und weitete die Frühverrentung aus. In Italien fragte die Linke nach den postsozialistischen Pfaden, nachdem gerade das sozialistische System kollabiert war und ermöglichte den in der Korruption versunkenen Konservativen die schnelle Rückkehr an die Macht.
Spätestens mit dem (Teil-) Machtverlust 2005 wandelt auch die deutsche Linke auf den Pfaden der Restauration. Im Steuer- und Sozialrecht werden Vorschläge der Achtzigerjahre hervorgekramt, während in Fragen der europäischen Integration, der Militarisierung und der Migrationspolitik einem naiven Ansatz gefolgt wird. Realpolitiker wie Sigmar Gabriel wurden auf die hinteren Bänke verdrängt. Es ist also genau anders wie Du es darstellst, Rechte und Linke haben die Rollen gewechselt. Heute sorgen sich die Rechten darum, den Kamin für den sozialen Aufstieg freizuhalten und die Linken machen sich zur Schutzmacht, jener, die ihren Status nicht mehr eigener Leistung, sondern Alter und Organisationskraft verdanken. Meine These: den Menschen gefallen zwar einzelne sozialpolitische Vorstellungen, aber ihr Leben wird nicht davon tangiert. Deutschland ist kein Volks von Putzfrauen und Dachdeckern. Wann also beschäftigt sich die Linke wieder mit Zukunftsfragen?
Stefan Sasse: Ich kann dir in der Diagnose der Malaise der Linken kaum widersprechen. Es ist ja kein Zufall, dass ausgerechnet jemand wie Macron zur Lichtgestalt aufsteigen konnte. Wir haben das Thema im Rahmen meiner Serie zu Glanz und Elend der Sozialdemokratie ja bereits einmal durchdekliniert. Möglich, dass der klassischen Linke tatsächlich der Dampf ausgegangen ist, wo es ironischerweise die Konservativen geschafft haben, sich zu erneuern. Eben auch ein Zeichen jenes Pragmatismus. Ich würde aber an deiner Stelle nicht zu sehr in Siegestaumel verfallen. Die Konservativen schicken sich gerade an allen Fronten an, den Untergang der Sozialdemokratie nachzudeklinieren. Eine konservative Kanzlerin hat, teils gegen die eigene Wählerschaft und Parteibasis, notwendige Änderungen durchgesetzt. Und alles, was jener Parteibasis und Wählerschaft einfällt, ist ein Zurück zu den Rezepten und Debatten der 1980er Jahre. Homoehe ja oder nein. Deutschland Einwanderungsland ja oder nein. Und so weiter.
Auf der Linken sehen wir gerade einen Kampf an mehreren Fronten. Die klassische Sozialdemokrate versucht, ihre fortbestehende Relevanz unter Beweis zu stellen (nicht sehr erfolgreich). Die - ich nenne sie einfach mal so - demokratisch-sozialistische Linke hofft, sie zu beerben, und endlich, vom Ballast der Zentristen und Reformer befreit, zu den Wurzeln zurückzukehren oder aber endlich dahinzukommen, wohin man schon immer wollte (Corbyn, Sanders, Lafontaine). Das klappt in manchen Ländern deutlich besser als in anderen. Und dann gibt im weitesten Sinne sozialliberale Bewegungen, die ebenfalls das Erbe antreten wollen; das sind etwa die Grünen Parteien, die Piraten, das sind die Democrats, das ist in einer gewissen Weise Macron. Das Gute ist, dass sich nirgendwo eine neokommunistische oder neostalinistische Linke abzeichnet, zumindest noch nicht.
Der Rechten könnte so was durchaus noch bevorstehen. Die Libertären bzw. Liberalen dürften ziemlich eindeutig eine kleine, aber einflussreiche Gruppe bleiben (so sich überhaupt auf der Rechten einordnen lassen, das geht in den USA etwa deutlich besser als in Deutschland). Aber der Kampf zwischen Reaktionären und Konservativen ist noch lange nicht entschieden, und was uns in Deutschland bisher erspart blieb, wofür es aber keine fortgesetzte Garantie gibt, ist eine Partei auf der Rechten, die sich christlich-fundamentalistisch gibt (also so was wie die PiS oder die Republicans) und dadurch ganz neue Überlappungen erlaubt.
Ich denke, und das könnte auch der Versuch eines Fazits sein, dass das gesamte politische System effektiv seit dem Fall des Ostblocks in Bewegung gekommen ist. Vielleicht sehen wir gerade so etwas wie den Höhepunkt dieser Entwicklung, bevor sich alles erneut auf zwei grundsätzlichen Achsen stabilisiert. Vielleicht ist es auch erst der Anfang. Vielleicht kommt auch eine Totalzersplitterung oder ein genereller Untergang des liberal-demokratischen Systems. Wir leben in interessanten Zeiten, und interessante Zeiten sind immer gefährliche Zeiten.
Stefan Pietsch: Eine stabile Demokratie lebt von einem gut austarierten politischen System, das alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen abbildet. Der Niedergang der Sozialdemokratie hat in maßgeblichen Demokratien wie Italien, den Niederlanden und Deutschland eine Lücke gerissen. In Frankreich und Griechenland wurde der Ausfall von PS und PASOK gut kompensiert, während in Spanien und Österreich die Mitte-Links-Parteien ihre Stellungen halten konnten. Dennoch habe ich den Glauben verloren, dass sich die Sozialdemokratie im Kern Europas nochmal erholen könnte.
In Deutschland hat sich die Union so verschoben, dass sie sicher bis Mitte des kommenden Jahrzehnts die einzige kanzlerfähige Partei sein wird. Sie stabilisiert das Bürgertum und bildet das System, um die die anderen Parteien kreisen. Die spannende Frage wird sein, wie sich bis 2030 das politische System anpassen wird, wenn die demographischen Veränderungen neue Milieus herausbilden werden. Eine wachsende Schicht von Alten, die einen vermögend, die anderen ärmer. Immer mehr bestens ausgebildete junge und mittelalte Menschen mit wahrscheinlich deutlich höheren Realeinkommen als jetzt stehen einem stärkeren Prekariat gegenüber. Und die Herausforderungen durch den Klimawandel werden Wirtschaft und Gesellschaft verändern, das Thema bildet möglicherweise die Haube über dem politischen Treibhaus.
In dieser neuen Gemengelage erscheint die Zukunft von SPD, LINKE und AfD höchst unsicher, Grüne und Liberale könnten weiter wachsen. Die Konservativen haben in den meisten westlichen Demokratien die Herausforderungen zur Veränderung und Anpassung angenommen. In Deutschland will niemand in der Union zurück zu den Zeiten um die Jahrtausendwende, da hilft der angeborene Pragmatismus des Bürgertums, den der Konservatismus immer am besten abzubilden wusste.
Stefan Sasse: Ja, das scheint mir die Trennlinien ordentlich zu umreißen. Ich denke wir kommen beide am selben Ende heraus: Wir erkennen die Bedeutung unserer jeweiligen Gegner für das Gesamtgefüge. Aber keiner von uns beiden wäre unglücklich, würde dieser seine Rolle aus der Opposition heraus ausüben. In diesem Sinne: Danke für das Gespräch!