08.08.2012, Junge Welt”
Frankreichs Kurswechsel in der Krisenpolitik
Paris vollzieht einen deutlichen Kurswechsel in seiner Krisenpolitik. Mittels eines ganzen Bündels klassisch sozialdemokratischer Reformvorhaben bemüht sich Frankreichs Präsident François Hollande, die sich zuspitzenden Probleme in Europas zweitgrößter Volkswirtschaft zu entschärfen und die Sanierung des französischen Staatshaushalts voranzutreiben. Dabei setzen die Sozialisten vor allem auf höhere Steuern sowie Abgaben für Vermögende, Manager und Konzerne, während Ausgabenkürzungen eine nachrangige Bedeutung haben. Mittels des Maßnahmenpaketes soll ein Haushaltsloch von rund zehn Milliarden Euro gestopft werden, doch entfallen hiervon nur 1,5 Milliarden auf Einsparungen.
Die im Rahmen des Nachtragshaushalts in der vergangenen Woche verabschiedeten Steuererhöhungen sehen etwa eine Sonderabgabe auf Vermögen von mehr als 1,3 Millionen Euro vor, die allein bis Jahresende zusätzliche 2,3 Milliarden Euro in den französischen Staatshaushalt einbringen soll. Insgesamt will der französische Staat durch Steuererhöhungen rund 7,2 Milliarden Euro zusätzlich in diesem Jahr einnehmen. Französische Ölmultis und Banken werden mit Zusatzsteuern von jeweils 550 Milliarden Euro jährlich zur Kasse gebeten. Die Verdopplung der Finanztransaktionssteuer von 0,1 auf 0,2 Prozent, deren Einführung bereits von Hollandes Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy beschlossen wurde, soll dem Fiskus jährlich Einnahmen von 1,6 Milliarden Euro bescheren.
Eine Reihe von Reformvorhaben des Konservativen Sarkozy, die eine Nachahmung der deutschen Agenda-2010-Politik waren, wurden hingegen von den Sozialisten kassiert. So sind die Steuerbefreiungen für Überstunden rückgängig gemacht worden, da sie angesichts einer Arbeitslosigkeit von rund zehn Prozent falsche Anreize setzten. Die von Sarkozy angestrebte Erhöhung der Mehrwertsteuer von 19,6 auf 21,2 Prozent, mit der nach deutschem Vorbild die Senkung der »Lohnnebenkosten« für die Unternehmer finanziert werden sollte, wurde komplett verworfen.
Die mittelfristige Haushaltsplanung der Sozialisten sieht vor, das letztjährige Haushaltsdefizit von 5,2 Prozent in diesem Jahr auf 4,5 Prozent zu senken und 2013 unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu drücken. Hierzu sollen im Herbst noch weitere Neuerungen eingeleitet werden, die Steuererhöhungen mit aktiver Arbeitsmarktpolitik kombinieren. Im Rahmen einer umfassenden Reform des Steuerrechts ist eine »Reichensteuer« von 75 Prozent für Einkommen von mehr als einer Million Euro vorgesehen, während zugleich rund 500 Millionen Euro für ein Arbeitsplatzprogramm für 100000 marginalisierte Jugendliche aus den Problemregionen Frankreichs mobilisiert werden sollen.
Unternehmerverbände und die konservative Opposition kritisierten das Vorgehen der Sozialisten als wirtschaftsfeindlich und schädlich für den »Wirtschaftsstandort Frankreich«. Die Reformvorhaben würden Topmanager und Superreiche vermehrt ins Ausland treiben, warnten Wirtschaftsverbände. Aus den Reihen der Oppositionspartei UMP hieß es, Frankreich werde nun gegenüber Deutschland weiter an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Die UMP hat eine Beschwerde gegen die Steuererhöhungen für Wohlhabende vor dem französischen Verfassungsrat angekündigt, da diese einer »regelrechten Enteignung« gleichkämen.
Die regierenden Sozialisten werden zudem von ersten Entlassungswellen unter Druck gesetzt. Viele Konzerne haben die durch die Krise verursachten Massenentlassungen im Präsidentschaftswahlkampf nicht umgesetzt, um so den von der Wirtschaft favorisierten Sarkozy zu stützen. Nach dem Wahlsieg Hollandes kündigten unter anderem der Autobauer PSA Peugeot Citroën, der Pharmakonzern Sanofi, das Telekommunikationsunternehmen Alcatel-Lucen und die Fluggesellschaft Air France Kündigungen von Zehntausenden Lohnabhängigen an, die den Handlungsspielraum der Sozialisten stark einschränken und diese mit einer massiven Protestwelle der Arbeiterschaft im kommenden »heißen Herbst« konfrontieren werden. Bei einer weiteren Eskalation der kapitalistischen Systemkrise in Frankreich dürfte somit auch die klassisch sozialdemokratische Politik Hollandes sehr schnell an ihre systemimmanenten Grenzen stoßen.