Richard Sennett – Die Kultur des neuen Kapitalismus

Erstellt am 20. September 2010 von Nicsbloghaus @_nbh

Was geschieht in einer Gesellschaft, was mit den Menschen darin, während des Wandels vom “sozialen Kapitalismus” (auch bekannt als “soziale Marktwirtschaft”) zum “neuen Kapitalismus”?
Dieser Frage geht Richard Sennett in seinem Buch nach.

Die Apostel des neuen Kapitalismus behaupten, dass ihre Version der drei Grundthemen – Arbeit, Qualifikation, Konsum – für größere Freiheit in der Gesellschaft sorge [...] Ich behaupte vielmehr, dass diese Veränderungen den Menschen keine Freiheit gebracht hat. (Seite 15)

Und diese Behauptung, die Darstellung seines gegensätzlichen Standpunkte ist der Inhalt des Buches.

Sennett baut seine Beweisketten logisch und nachvollziehbar auf. Es ist sicherlich schwierig, seine Logik zu widerlegen. Aber das will ich auch gar nicht.

Er benutzt die sich herausbildenden Formen des sozialen Zusammenlebens innerhalb der sog. New Econemy, um zu zeigen, dass das, was am bisherigen Kapitalismus sozial genannt werden konnte, wegbricht. So starr die Strukturen bisher auch waren; gaben sie doch dem Leben der Menschen Halt. Die Auflösung der Hierarchien in Unternehmen, Behörden und dem sozialen Miteinander lässt die Menschen in Unsicherheit zurück.

Das Buch lässt den Leser ungetröstet zurück:
Auch weil Sennett aufzeigt, dass der Mensch innerhalb des Systems des neuen Kapitalismus vereinsamen, weil soziale Kontakte und Umfelder durch das “Just-In-Time-Leben” kaum noch aufzubauen sind/sein werden.
Weil er nachweist, dass Politik alles andere als nachhaltig betrieben wird, sondern eher wie die Werbung für Konsumgüter nach dem Motto “schnell haben – schnell vergessen” handelt.
Weil Sennett der Meinung ist, dass Bildung – diese auch von Wolfgang Engler als notwendig erachtete Notwendigkeit für eine neue Gesellschaft – nur für eine geringe Elite notwendig ist.

Aber nicht ganz. Auf den letzten Seiten des Buches skizziert Sennett seine Ideen zur Umsetzung eines sozialen Lebens auch innerhalb dieser flüchtigen Zeit:
- Schaffung von “Parallelinstitutionen” – ähnlich den Gewerkschaften, die

den Beschäftigten in den kurzfristig orientierten, flexiblen Organisationen fehlende Kontinuität und Nachhaltigkeit zu bieten vermögen (Seite 146)

- Jobsharing: Hier sieht Sennett eine Möglichkeit, sich selbst dann nützlich zu fühlen, wenn man nicht vollbeschäftigt ist. Auch hier geht es um Kontinuität in der Lebensgeschichte, denn

das Jobsharing bietet einen gewissen lebensgeschichtlichen Rahmen. Man ist langfristig und ohne Unterbrechung beschäftigt. So kann die für befristete Arbeitsverträge typische Angst des ständigen Wechsels nicht aufkommen. (Seite 147)

- Das (uneingeschränkte) Grundeinkommen. Einen Vorschlag von Claus Offee und Philippe Van Parjis folgend schreibt Sennett:

…die sozialstaatlichen Bürokratien (sind) [...] durch ein einfaches System zu ersetzen, wonach jeder Bürger, ob arm oder reich, aus Steuermitteln ein Grundeinkommen erhält [...] jeder (erhält) das Grundeinkommen, ganz gleich, ob er es braucht oder nicht. Dadurch entfällt die Prüfung der Bedürftigkeit. (Seite 148)

Womit wir wieder bei meinem derzeitigen Lieblingsthema sind…

Das Buch ist wirklich sehr zu empfehlen. Es ist klar strukturiert, flüssig lesbar und es bedarf keines abgeschlossenen Soziologie- oder Philosophiestudiums, um es zu verstehen. “Der flexible Mensch” – das Buch davor – steht nun definitiv auf meiner “Muss-ich-lesen-Liste”.