ARTus-Kolumne »So gesehen« Nr.547
1928 erschienen »Die schönsten heiteren Geschichten von heute« als »Drei Bücher des Lachens« im Verlag Ullstein Berlin. Vor einigen Jahren stöberte ich die gesuchte Rarität im Bücherbahnhof Lietzow auf. Sie vereinigt Autoren wie Bert Brecht, Egon Erwin Kisch, Gustav Meyrink, Balder Olden, Peter Panter (das ist Kurt Tucholsky!), Joachim Ringelnatz bis hin zu Micha(i)el Sostschenko. In meiner Büchersammlung ist sie gut aufgehoben und gibt genug Anlässe zur Nachlese.
Wer aber hat die drei originellen Einbandzeichnungen und die Gestaltung des die Bücher schützenden Schubers besorgt? Auf Seite vier steht im Kleingedruckten ein Allerweltsname: Richard Lindner.
Es ist, man glaubt es kaum, jener Richard Lindner, der genau 35 Jahre später im New Yorker Museum of Modern Art, dem legendären »MoMA«, zusammen mit den Pop-Ikonen Andy Warhol und Claes Oldenburg keine Bücher sondern Bilder ausstellte und seitdem als Wegbereiter der Pop-Art gilt.
Lindner, geprägt von seinem 23-jährigen Aufenthalt in der Spielzeugstadt Nürnberg, fasziniert von der Neuen Sachlichkeit der Zwanziger Jahre, die er in seinen zunächst kunstgewerblichen und dann künstlerischen Ausbildungsstätten in München und einem zweijährigen Studienaufenthalt in Berlin aufgesogen und verinnerlicht hatte, blieb nach der Flucht aus Nazi-Deutschland und Frankreich der Gegenständlichkeit auch im Exilland Amerika treu, lotete sie bis in die Groteske hinein aus, verband die Neue Sachlichkeit mit der knallbunten Werbekunst Amerikas und hatte so gesehen seine Sprache als Solitär gefunden.
Er begrüßte zwar den Zeitgeist der Abstraktion und verehrte vehement ihre Protagonisten, blieb selbst aber konsequent bei der künstlerischen Analyse eines Menschenbildes, das sich geradezu unheimlich – bis hinein in unsere Tage – seinen Bildern anverwandelt. Wieland Schmied: »Lindner Figuren scheinen mechanisch zerlegbar und wieder zusammensetzbar, scheinen als Collage geschaffen, einem Ausschneidebilderbogen entsprungen. Alles, was der Mensch anfasst, verwandelt sich in Spielzeug, und er selbst wird zum Spielzeug für andere, zur Aufzieh- und Anziehpuppe, zum Roboter, den man anstellt und abstellt, zur Schießbudenfigur im Jahrmarkt der Großstadt. Spielzeuge sind seine Accessoires und Akquisitionen, seine Kostüme und sein Konsum, Perücken, Krawatten, Stiefel, Gürtel, Korsetts, Eislutscher und Zigarren, Automaten, Motorrad und Telefon. Spielzeuge setzen den Mechanismus der Träume in Gang…«
Man möge entsprechend die noch über fünf Wochen in der Orangerie Putbus ausgestellte Collage-Grafik Lindners »Gigolo« betrachten. Die KulturStiftung Rügen erhielt sie als Schenkung vom unvergessenen Prof. Carl Vogel (1923-2006) und beschenkt damit jenen Betrachter, der unverzagt den Blick in den Spiegel der Vergangenheit, Gegenwart und möglichen Zukunft wagt. ARTus
Nachtrag zum 110. Geburtstag des Künstlers Richard Lindner (11.11.1901 - 16.4.1978) Zeichnung: ARTus