„Wir alle spielen Theater“ des Amerikaners Erving Goffman gilt als Klassiker der Soziologie. Goffmans Beobachtungen zur Selbstdarstellung der Individuen und den Begebenheiten der zwischenmenschlichen Interaktion ist auch über 50 Jahre nach der ersten Veröffentlichung noch immer aktuell.
Die Theatermetapher ist omnipräsent im Werk von Goffman: Alle Menschen spielen in der Interaktion mit ihrem Gegenüber eine Rolle. Diese wird auf der Hinterbühne, zu der die anderen Interaktionspartner keinen Zutritt haben, vorbereitet und dann auf der Vorderbühne mit Hilfe der Sprache und der Mimik, Gestik und dem Verhalten inszeniert. Je nach Interaktionspartnern und sozialen Begebenheiten der Interaktion wählt das Individuum eine andere Rolle. Wie die Interaktion verlaufen wird, kann der Einzelne nicht steuern, egal wie gut er seine Rolle vorbereitet und darstellt. Die Interaktion hat also ihre eigene Dynamik. Soviel zum mis-en-place von Goffmans „Wir alle spielen Theater“.
Aufbauend auf dieser Prämisse beleuchtet der amerikanische Soziologe verschiedenste Bereiche der menschlichen Interaktion. Er definiert Sonderrollen wie den Kontrolleur, den Vermittler oder den Denunzianten, modelliert Inszenierungen von mehreren Darstellern als Ensemble mit einem Regisseur, der für Ordnung zu sorgen hat, und erklärt, mit welchen Methoden und Taktiken Interaktionsteilnehmer versuchen, ihr Gegenüber zu manipulieren. Goffman schafft es, seine Beobachtungen in eine leicht verständliche Sprache zu verpacken und illustriert diese mit vielen Fallbeispielen aus der klinischen Psychiatrie und mit den Verhaltensregeln der amerikanischen Mittelschicht.Entstanden ist aus daraus ein hochinteressantes und ebenso intelligentes Buch über die zwischenmenschlichen Beziehungen in der direkten Interaktion, das nach wie vor seinesgleichen sucht. Auch mehr als 50 Jahre nach der ersten Veröffentlichung Ende der 50er Jahre sind Goffmans Überlegungen noch immer aktuell und haben durch die zunehmend Bedeutung des Internets noch mehr an Wert gewonnen. Goffmans Ausführungen zur Selbstdarstellung und dem impression management in Interaktionen können auch auf das Verhalten von Menschen in sozialen online Netzwerken wie Facebook oder Twitter angewendet werden und fördern so interessante Erkenntnisse zu Tage. Auch wenn es darum geht, herauszufinden, welche Darstellungsmöglichkeiten sich in online Chaträumen bieten und wie sich die virtuelle von der realen Kommunikation unterscheidet, kann „Wir alle spielen Theater“ einige Erklärungen liefern.
Goffmans Kritiker werfen ihm vor, er betreibe keine richtige Wissenschaft, da er keine verallgemeinerbare Theorie vorlegt, die er mit einer repräsentativen Empirie belegen kann. Dieses Vorgehen wurde jedoch von Goffman bewusst nicht gewählt. Er orientierte sich in seiner Arbeit auch nicht an bestehenden soziologischen Theorien, sondern immer nur am Gegenstand (gewisse Ähnlichkeit zum Symbolischen Interaktionismus). Aus diesem Grund steht er oftmals etwas quer zur Theorielandschaft der Soziologie, was jedoch seinem Erfolg keinen Abbruch tut. (fba)