London, wie es die Großväter unserer Großväter einmal kannten, gibt es nicht mehr.
London, wie wir es kennen, existiert nicht mehr. Die ganze Welt hat sich verändert, denn die größeren Städte sind zu riesigen Metropolen geworden, umgeben von Mauern, die die Städte vor dem Niemandsland, dort, wo die Aussätzigen leben, trennen. Die Städte sind aufgeteilt in die Welt der Industriellen, sozusagen der Elite und die Welt der Arbeiter, die in den Fabrikvierteln leben und jeden Tag um ihr Leben kämpfen müssen. Jolette Somerville, kurz Jo genannt, ist ein Watcher; eine Wächterin. Sie schützt die Tochter eines Industriellen mit ihrem Leben, da diese besondere Fähigkeiten hat und sie somit von ihren Mitmenschen abhebt. Denn neben den Menschen existiert auch noch eine andere Rasse - die Cupids. Sie jagen Kinder mit besonderen Fähigkeit und haben es ganz besonders auf Patience, Jo's Schutzbefohlene, abgesehen. Gemeinsam mit Cy fliehen Jo und Patience aus London quer durch Europa und finden sich bald auf einer Reise wieder, die Geheimnisse aufdeckt, die die drei niemals für möglich gehalten hätten....
Eine Geschichte zu Zweit zu schreiben, stelle ich mir besonders schwierig vor - schließlich ist es manchmal schon schwer genug, überhaupt eine alleine zu verfassen. Die beiden Autorinnen Nadine d'Arachart und Sarah Wedler jedoch beweisen, dass das kein unmöglich Unterfangen ist, denn dem Buch merkt man zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Lücken oder Stolpersteine an, die darauf hinweisen könnten, dass das Buch von zwei unterschiedlichen Menschen geschrieben wurde - ganz im Gegenteil: Schon nach den ersten Kapitel stellt sich ein sogartiger Lesefluss ein! Jugendlich, atmosphärisch dicht und dabei nicht platt oder anspruchslos; so lässt sich der Stil in einigen Worten zusammenfassen. Zwar liest sich das Buch definitiv gut, große Besonderheiten konnte ich aber widerrum auch nicht feststellen. Es ist eben ein Jugendbuch und das merkt man auch, dennoch kann man das Buch als sehr flüssig lesbar und leserfreundlich geschrieben beschreiben.
Ich mag Geschichten, die anders sind. Geschichten, die etwas Neues, etwas Einzigartiges mit sich bringen und nicht monoton das wieder hochwürgen, was unzählige andere Geschichte vor ihnen bereits erzählt haben. "Watcher: Ewige Jugend" ist definitiv anders. Sicherlich treibt es auf der unübersehbaren Welle aus Dystopien mit, doch es bringt einigen frischen Wind mit sich und bedient sich nicht durchgänig der altbekannten Muster. Ja, "Watcher" hebt sich ab und das ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass die Autorinnen sich eine neue Wesensart (die Cupid) ausgedacht haben, sondern auch der Art und Weise, wie diese Geschichte erzählt wird, denn sie wirkt allein schon um einiges warmherziger als die sonst so kaltblütigen dystopischen Geschichten. Die Mischung aus Fantasy und dystopischen Road Trip gewürzt mit Liebe und Intrigen macht einfach einiges her und entführt den Leser schnell in eine faszinierende Welt, in der es so viel zu entdecken gibt, dass man zeitweise hängen bleibt und sich kaum loszureißen weiß.
Diese Tatsache kompensieren die Autorinnen gut damit, dass sie nur wenig preisgeben - das klingt widersprüchlich, ist aber tatsächlich die Wahrheit, denn auch wenn die Geschichte atmosphärisch viel zu bieten hat, so halten d'Arachart und Wedler doch einige Lösungen und Tatsachen bis zum Ende zurück bzw. halten sich was einige Erklärungen angeht sehr bedeckt, was einmal mehr dazu führt, dass man unbedingt weiterlesen möchte und die Spannung und Neugierde konsequent bewahrt bleibt. Zwar ist es zeitweise auch etwas mühselig, sich im Kopf einiges selber zusammenreimen zu müssen, aber andererseits fordert das den Leser ab und an, sodass er nicht völlig hirnlos liest, sondern zwischendurch auch einmal selbst einige Lücken schließen muss. Allein das macht Lust auf den Folgeband (der übrigens im Juni dieses Jahres erscheint) und hat eine fesselnde Spannung als Konsequenz. Doch für diese sind nicht nur die fehlenden Wissenslücken verantwortlich, sondern auch die vielen Orte und Umgebungen, die die Autorinnen bildhaft zu beschreiben wissen. Man lernt einiges von der Welt kennen und auch wenn man einige Ideen schon kennt (Niemandsland) und das typische Kastensystem, so wirkt dies nie langatmig oder einfallslos.
Mit der Protagonistin Jolette wurde ich bis zum Ende nicht richtig warm, obwohl sie eine sympathische Persönlichkeit ist. Vielleicht liegt das daran, dass sie bis zum Ende auch keinen richtigen und bestimmten Charakter hat - schließlich weiß sie von ihrer Vergangenheit nichts und gerade diese ist ja für die Persönlichkeit des Menschen verantwortlich. Zeitweise fiel es mir daher auch ein wenig schwer, immer mit ihr mitzufiebern - dafür mochte ich aber die anderen Figuren sehr, allen voran Cy, der mir direkt ans Herz gewachsen ist und sich auch gerade zum Ende hin zu einer absolut charismatischen und tollen Figur gemausert hat. Hinzu kommen Patience, die auch eine schöne Entwicklung hinlegt und eine weitere Figur, die aber erst ab der Mitte eine wesentliche Rolle spielt und ebenfalls sehr unterhaltsam und humorvoll ist. Auf Platz Nummer 1 steht übrigens Hündin Mali, in die ich mich sehr verliebt habe und die hoffentlich auch weiterhin wichtig bleibt. Ebenso überzeugen die verschiedenen Beziehungen der Figuren untereinander, wobei das meiste hier wirklich selber herausfinden muss - gerade das Ende hat dem ganzen nochmal das Krönchen aufgesetzt und mich wirklich sehr neugierig auf den nächsten Band gemacht.
Sowieso bin ich sehr gespannt, wie sich die Geschichte weiterhin entwickelt wird. Wie gesagt weiß man ja prinzipiell erst einmal nur wenig über die Vergangenheit dieser Welt, auch wenn einiges aufgelöst und erklärt wurde. Für mich standen aber in erster Linie auch gar nicht die dystopischen Elemente, sondern viel mehr die Figuren und ihr kleiner Road Trip durch Europa, wobei man das wohl schon als Hetzjagd bezeichnen könnte. Auch die Geschichte der Cupids, die zwischenzeitlich kursiv abgedruckt wurde, ist interessant und bringt einige spannende Einblicke in diese Welt - hier gilt allerdings tatsächlich: selber herausfinden und lesen, denn ansonsten würde ich einfach zu viel vorweg nehmen und gerade das Grübeln, Nachdenken und Kennenlernen macht doch bei solchen Geschichten am meisten Spaß!
Für mich darf es noch ein Watcher sein, denn diese Geschichte hat mich nicht nur aus einer kleinen Leseflaute geholt, sondern auch sehr mitgerissen und fasziniert. "Watcher: Ewige Jugend" ist vielschichtig und bietet Lesern alle Genres einige interessante Momente, sodass sicherlich für jeden etwas dabei ist. Auch wenn Protagonistin Jo ein wenig schwierig ist, so sind doch gerade die Figuren einfach sehr liebenswürdig und ihre Beziehungen untereinander sorgen für einige witzige, traurige und spannende Momente. Wer eine Dystopie mit frischen Ideen und toller Atmosphäre sucht, könnte hier tatsächlich fündig werden, denn "Watcher: Ewige Jugend" ist ein dystopischer Road Trip, der gekonnt einige Genres miteinander verbindet und neben Unterhaltung auch einiges zum Nachdenken zu bieten hat. Kleine Fehler verzeiht man der Geschichte gerne und so kann ich das Buch jedem Dystopiefreund nur ans Herz legen!
Nadine d’Arachart und Sarah Wedler, geboren 1985 und 1986 in Hattingen, schreiben seit mehr als zehn Jahren gemeinsam. Neben zahlreichen Veröffentlichungen (in Anthologien und Jahrbüchern, ein Kurzgeschichtenbuch, drei Romane) erhielten sie verschiedene Preise für ihre Kurzgeschichten und Drehbuchideen. Zuletzt wurden sie im November 2012 mit dem Förderpreis zum Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet. [via Lovelybooks]
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