Ein weißer Raum mit einem weißen Bett, einem weißen Tisch, auf welchem Papier und Stifte liegen. Dies alles sieht Grace, als sie erwacht und langsam beginnt, die weißen Seiten mit ihrer Vergangenheit zu füllen. Sie weiß nicht, was sie in diesem weißen Raum tut, noch weiß sie, wer Ethan ist, der ihr Nahrung und Kleidung bringt, doch sie weiß, dass sie ihn kennt. Und sie weiß, dass es einen bestimmten Grund dafür gibt, dass sie hier ist. Mit jeder Seite, die sie füllt, kommt sie ihrer Vergangenheit ein Stück weiter und bald kommt auch die Wahrheit dieser immer mehr ans Licht. Grace muss sich ihr stellen und herausfinden, wer sie eigentlich ist.
Cat Clarke hat die besondere Gabe eine Geschichte diese besondere Lebendigkeit zu verleihen, die es dem Leser möglich macht, sich schnell und ohne Scheu zwischen den Worten zurecht zu finden. Um dies zu erreichen nutzt sie einen eher umgangssprachlichen Schreibstil, der dennoch sehr viel Tiefe besitzt. Aus der ersten Person Singular erzählt Grace ihre Geschichte ganz unverblümt und ehrlich, sodass man ihr nicht nur sehr nahe kommt, sondern ihre Motive und Handlungen auch schnell zu verstehen lernt. Ich war überrascht, wie gut mit Clarkes umgangssprachlicher Ton letztendlich gefiel, weil sie ihm das gewisse Etwas verleihen konnte, sodass sich die Geschichte zwar flüssig und sehr angenehm, aber auch mit doppelten Böden, die es zu ergründen gibt, lesen lässt.
Weiß ist eine unbunte Farbe und erfreut sich unzähliger symbolischer Bedeutungen, wie beispielsweise Unschuld, Unendlichkeit, Reinheit, und Leere. Alle diese Begriffe lassen sich auch "vergissdeinnicht" zuordnen, welches sich bereits von Außen in einem weißen, unberührtem Gewand zeigt. Diese Gestaltung setzt sich nicht nur auf den Seiten fort, sondern auch der Inhalt stützt sich des Öfteren auf diese Farbe - denn genau so beginnt die Geschichte um Grace: mit Weiß. Ein weißer Raum mit einem weißen Tisch, auf dem sich weißes Papier befindet. Und ein ganzer Haufen Erinnerungen, die Grace mit der Zeit niederschreibt, um das Rätsel ihres Aufenthaltortes herauszufinden. Die Geschichte, die mich so unschuldig erwartete, hatte es faustdick hinter den Ohren und ist, bedeckt von der weißen Oberfläche, dunkel und mitreißend und erführt den Leser in eine Welt aus Ratlosigkeit, Liebe und Hass.
Über die Idee, die sich hinter den unscheinbaren Buchdeckeln verbirgt, möchte ich an dieser Stelle nicht allzu viel verraten, da sie erst auf den letzten Seiten wirklich herauskommt. Ich kann allerdings sagen, dass ich ein solches Buch noch nie gelesen habe und es mich mehr als einmal umgehauen, emotional umgeworfen und überrascht hat. Der Hintergrund der Geschichte ist sehr orginell und tiefgründig und konnte mich definitiv überzeugen. Die Autorin spielt hier gekonnt mit dem Leser, führt ihn an der Nase herum und lässt ihn seitenlang zappeln, was nur dazu führte, dass ich die Geschichte kaum aus der Hand legen konnte und sie in einem Rutsch lesen musste. Das Zitat auf der Rückseite des Buches trifft hier ausnahmsweise absolut zu: "Es passiert nicht oft, dass man durch ein Buch rast, weil man unbedingt die Auflösung, die Wahrheit, erfahren will. vergissdeinnicht ist solch ein Buch." (Birmingham Newspaper)
Und doch ist "vergissdeinnicht" nicht nur "solch ein Buch". Es ist viel mehr als eine Geschichte, durch die man rast, denn dies geschieht nicht, weil das Buch so atemlos spannend ist - obwohl mich die Ungewissheit doch ganz schön kitzelte. Es geschieht, weil man von Anfang an in eine Geschichte geworfen wird, die einem häppchenweise immer mehr Informationen hinwirft, dem Leser immer wieder Krümelchen vor die Nase hält, die ihn jedoch nicht satt machen können, sodass es mir einfach unmöglich war das gesamte Gericht nicht in einem Schwung hinunterzuschlingen. Faszinierenderweise sind nicht alle Handlungsstränge undurchschaubar und auch gar nicht mal so abwegig, aber auch wenn ich dies schon ahnte, so hat es mich letztendlich doch sehr schockiert zurückgelassen...
...was hauptsächlich an Grace lag, denn Grace ist... anders. Sie ist nicht die Art Mädchen, die man zur besten Freundin haben will oder überhaupt ein einfacher Mensch. Auf ihr lasten so einige Gewichte und das hat sie geprägt. Ihre exzentrische Art und die Nacktheit, mit der sie sich dem Leser präsentiert, hat sie für mich in jeglicher Form sympathisch gemacht, was allerdings auf keinen Fall heißt, dass ich alles nachvollziehen konnte, was sie getan hat - ganz im Gegenteil. Dennoch habe ich sie verstanden. Ich hatte während des Lesens oft das Gefühl ihr direkt in die Seele schauen zu können, was sie mir sehr nahe gebracht hat, sodass ich mich mit ihr verbunden gefühlt habe. Ihre Gefühle waren zeitweise meine Gefühle, was einer der Gründe dafür ist, dass mich das Geheimnis letztendlich emotional etwas aus dem Konzept brachte. Sie ist ein facettenreicher Charakter, zerbrechlich wie ein Glas und dennoch ehrlich und direkt. Das, was sie nach Außen trägt, ist nicht wirklich das, was sie im Inneren wirklich ist und Clarke hat dies so authentisch an den Leser gebracht, dass diese Figur mich einfach faszinierte.Neben Grace sind allerdings auch die anderen Figuren sehr authentisch und dreidimensional gezeichnet. Ich hatte zwar - ebenso wie Grace bzw. gerade durch Grace - das Gefühl niemandem wirklich vertrauen zu können, aber in ihrer Gesamtheit waren die Figuren glaubwürdig und realistische dargestellt. Das einzige Problem war das große Geheimnis, welches sie verstecken und welches Grace mit der Zeit entschlüsselt. Ich habe es einfach nicht verstehen können, es hat mich ebenso verletzt wie Grace selbst und auch wenn es eigentlich gar nicht so spektakulär war, hat es mich schockiert. Allerdings habe ich die Nebencharaktere in dieser Hinsicht nicht hunderprozentig glaubwürdig gefunden und ihre Handlungen nur wenig verstanden.
"vergissdeinnicht" ist ein Buch, welches ich wohl nicht so schnell wieder vergessen werde, denn so weiß und unberührt auch auf den ersten Blick wirkt, die Farbe der Unendlichkeit spielt in der Geschichte um Grace eine ganz besondere Rolle und ist sicherlich alles andere als rein und unschuldig. Ebenso wenig trägt Protagonistin Grace eine reine Weste mit ihrer direkten, etwas derben Art, doch genau diese Ecken und Kanten sind es, die das Buch für mich so unvergleichlich machten. Der umgangssprachliche, aber dennoch tiefgründige Schreibstil hat das Buch letztendlich sehr rund und dreidimensional gemacht. Themen, wie Freundschaft, Lüge, Wahrheit und Liebe spielen eine große Rolle und so ist die Geschichte sehr ernst und melancholisch. Ein Buch, welches ich jedem ans Herz legen kann, der von einer Geschichte überrollt werden will, der subtile Spannung und Dramatik mag und den ein Buch noch so richtig berühren kann.
Geboren in Sambia ist Cat Clarke im Heimatland ihrer Eltern, in Schottland, aufgewachsen. Nach ihrem Schulabschluss studierte sie an der Universität Edinburgh Geschichtswissenschaften. Nach verschiedenen Jobversuchen stand schnell für Cat Clarke fest, dass sie mit Büchern arbeiten möchte und sie zog nach London, wo sie zunächst im Marketingbereich für Kinderbücher tätig war. Nachdem sie erfolgreich selbst Kinderbücher verfasste, beschloss sie, sich an einen Roman zu wagen. Mit "Vergissmeinnicht" erscheint im Frühjahr 2012 ihr Romandebüt in deutscher Sprache. [via Lovelybooks]
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