Rezension: Valerie Fritsch – Winters Garten (Suhrkamp 2015)

Die junge österreichische Autorin Valerie Fritsch legt mit “Winters Garten” einen poetisch kraftvollen Gegenentwurf zum Grossteil gegenwärtig kursierender Dystopien vor: Eine apokalyptische Vision, die sich kaum um die Ursachen des drohenden Untergangs schert, sondern existenzielle Fragen des Menschseins im Angesicht der Zukunftslosigkeit ins Auge fasst.


“Anton war ein Kind, das sich sowohl von der Begeisterung für das Leben als auch von jener für den Tod anstecken liess. Die Bewohner sprachen viel über den Tod in ihrem Garten, denn wie sollte man irgendwann in Ruhe sterben, wenn man darüber schwieg. Es galt ihnen: Was man nicht über die Lippen bringt, bringt man auch nicht übers Herz. Und Anton gewöhnte sich schnell an die Veränderungen, die das Leben mit sich brachte. Dass die Natur alles auflöste, was sie gebar, in einem Wasserglas, in einem Sturm, in einem Winter, fand er aufregend.”

winter

Anton Winter verbringt seine Kindheit in einer harmonisch-idyllischen Gartenkolonie, die längst nicht mehr ideologische Gemeinschaft, vielmehr Grossfamilie ist. Die Stadt liegt eine gute Stunde entfernt, manche der Erwachsenen gehen dorthin, um zu arbeiten, vor den Kindern im Garten aber sprechen sie nicht darüber. Von diesem paradiesischen Urzustand aus erzählt der Roman die Lebensgeschichte des Anton Winter.

Nach dem Tod der Grossmutter, die ihm von allen Verwandten am meisten bedeutete, verschwindet Anton eines Tages wortlos aus der Kolonie. Er geht in die Stadt. Hier begegnen wir ihm im zweiten Kapitel wieder: Inzwischen ist er zweiundvierzig, Vogelzüchter, von undurchdringlicher Traurigkeit, wissend, dass der Untergang der Welt bevorsteht. Und in genau diesem Zustand verliebt er sich zum ersten Mal in seinem Leben. Sie heisst Frederike, war Marineoffizierin, arbeitet jetzt als freiwillige Helferin in einem städtischen Gebärhaus. Denn bei all den “Verwüstungen und Gewalttätigkeiten”, den Massenselbstmorden und Trümmerfeldern, werden noch immer Kinder geboren.

Anton und Frederike beginnen ihr gemeinsames Leben, von dem sie schon wissen, dass es ein kurzes sein wird. Er ist unerfahren, eifersüchtig, von einer naiven Zärtlichkeit. Im Angesicht des Letzten, im Bewusstsein aber auch, dass ihre Liebe niemals abnehmen können wird, klammern sie sich aneinander, verlieren sich ineinander.

Als Frederike das Kind der Frau Marta zur Welt bringt, erkennt Anton in deren Mann seinen Bruder Leander wieder, den er seit der Kindheit nicht gesehen hat. Zu fünft machen sie sich, im Tosen einer zerstörten Welt kurz vor der endgültigen Vernichtung, ein letztes Mal auf den Weg in die Gartenkolonie. Wo es für Anton begonnen hat, soll es auch enden. Der Garten ist ihm gleichsam ein Ort des Erinnerns der elysischen Kindheitstage wie des Vergessens des unerträglichen Elends in der Stadt. Er erkennt: “Der Garten war immer schon Voraussetzung seiner Existenz gewesen, weniger ein Ort als ein Umstand, der ihn begleitete, wohin er auch ging.”

Valerie Fritsch (*1989) schreibt allegorien- und bilderreiche Prosa, deren archaisches Vokabular nur hin und wieder Aufschlüsse über das Alltagsleben in dieser unbestimmten Zukunft zulässt. So kommt es, dass bei aller Kraft, die etwa die Beschreibungen der Liebe zwischen Anton und Frederike zu entfalten vermögen, eine genaue Vorstellung etwa von der Stadt schwerfällt  (Ist es eine überschaubare Hafenstadt oder doch eine gigantische Metropole?). Die Hintergründe der Zivilisation und die Ursachen ihres Untergangs stehen denn auch, im Gegensatz zur Mehrzahl gegenwärtig kursierender Dystopien, keinesfalls im Fokus. Es sind existenzielle Fragen des Menschseins – insbesondere der Liebe – im Angesicht der Zukunftslosigkeit, die verhandelt werden.

Fritsch hat neben dem gemeinsam mit ihrer Mutter Gudrun Fritsch geschriebenen Gedichtband “kinder der unschärferelation” (Leykam, 2015) auch bereits zwei Prosaveröffentlichungen vorzuweisen, namentlich den Roman “Die VerkörperungEN” (Leykam, 2011) sowie “Die Welt ist meine Innerei. Reisebriefe und Bilder” (SEPTIME, 2012). Während die Sprache in “Winters Garten” die Nähe zur Poesie offenlegt, lassen sich thematisch Anschlüsse an die beiden früheren Prosawerke ausmachen. Als ein dominanter Themenkomplex ist der menschliche Körper zu nennen, dessen Veränderungen, Vergänglichkeit, Auflösungs- und Zerfallserscheinungen bereits in den Reisebriefen, wo es etwa um äthiopische Sterbehäuser geht, und auch im Romanerstling, dessen Protagonistin eine zur Ärztin gewordene Hure ist, eine gewichtige Rolle spielten.

Die Autorin schöpft sprachlich aus dem Vollen, wägt die Worte genau ab, versucht jedem Satz sein adäquates Gewicht zu geben, was zumeist auch gelingt. Es ist diese Sprache, die “Winters Garten” – eine etwas vage Geschichte mit bisweilen (vielleicht bewusst) langweiligen Figuren – über den Durchschnitt hebt. Irgendwo zwischen Nootebooms Poesie (“Philip und die anderen”), von Triers Bilderwelten (“Melancholia”) und den industriell-unterkühlten Klängen von Joy Division hat Valerie Fritsch einen körperbetonten apokalyptischen Groove gefunden, der sie als aufhorchenswürdige junge Stimme in der deutschsprachigen Literatur auszeichnet. Der Wechsel zu Suhrkamp und der Gewinn des Peter-Rosegger-Literaturpreises Anfang diesen Jahres zeugen davon, dass dieses Potenzial nicht verborgen geblieben ist.

Fritsch, Valerie. Winters Garten. Berlin: Suhrkamp 2015. Gebunden m. Schutzumschlag, 154 S. 978-3-518-42471-1


Weiterführend: Website der Autorin || Autorenkollektiv Plattform Graz


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