Die junge italienische Autorin Valentina D’Urbano, geboren 1985, legt mit “Mit zwanzig hat man kein Kleid für eine Beerdigung” (Original: “Il Rumore dei tuoi passi”, 2012) ein rücksichtsloses Drama vor, in dessen Mittelpunkt zwei Jugendliche stehen, deren Liebe zur falschen Zeit am falschen Ort ist – und in einer unabwendbaren Katastrophe mündet. Ein ergreifender Roman.
Titel: Mit zwanzig hat man kein Kleid für eine Beerdigung
Original: Il Rumore dei tuoi passi (Longanesi 2012)
Autorin: Valentina D’Urbano
Übersetzung: Constanze Neumann
Verlag: dtv
ISBN: 978-3-423-24999-7
Umfang: 280 Seiten, Taschenbuch
“Wir waren am falschen Ort zur Welt gekommen, un wir kannten das Risiko, aber wir dachten immer, dass uns nicht passieren konnte”, heisst es an einer Stelle. Bea, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, und Alfredo leben in einem Stadtquartier namens “La Fortezza”, nicht einmal die Polizei traut sich hierher, solange die Bewohner drin bleiben, werden sie in Ruhe gelassen. Was hier passiert, wird immer auf den “Verfall” geschoben. Alles Leben ist hier der blosse Versuch zu über-leben.
Erzählt werden etwas mehr als zehn Jahre im Leben von Bea, Alfredo und ihrem nächsten Umfeld. Nach der ersten Szene – Alfredos Beerdigung 1987 – erfolgt die Rückblende ins Jahr 1976. Die beiden Protagonisten sind gerademal elf Jahre alt, im ganzen Viertel nennt man sie die “Zwillinge”. Schon da zeigt sich der zwiespältige Charakter ihrer zum Scheitern verdammten Liebe. Später wird Bea sagen: “Ich konnte diesen Alfredo nicht ausstehen. Und ich hatte ihn lieb, mehr als ich je gedacht hätte.” Unter diesen Vorzeichen entwickelt sich die Beziehung der “Zwillinge”, sie kleben aneinander, sind Tag und Nacht zusammen, streiten sich dabei ständig und nicht selten prügeln sie sich bis Blut fliesst.
Überhaupt ist das Umfeld von intensiver häuslicher Gewalt geprägt, was sich insbesondere im Vater von Alfredo und seinen Brüdern manifestiert, der im Dauersuff manchmal seine Söhne umzubringen versucht. Und niemand unternimmt etwas. Alfredo ist ein fatalistischer Charakter, er nimmt sein Schicksal kampflos hin. Bea, sein Gegenpol, ist anders, sie will raus aus dem verfluchten “La Fortezza”. Und eines Tages schafft sie es, für einige Wochen fährt sie in eine Ferienkolonie ans Meer.
Alfredo würde sich nie anständig benehmen. Er würde immer ein Tier bleiben und hatte auch nichts Besseres verdient. Ich nicht. Ich hatte die Wahl, ich konnte auch nett sein.
Als Bea nach einigen Wochen zurückkommt hat sich alles verändert. Alfredo trifft sich mit einem Mädchen, Paola, und Bea will mehr denn je weg aus dem schrecklichen Quartier, nach Bologna zu den Leuten, die sie in den Ferien kennengelernt hat. Doch etwas hält sie zurück: Alfredo. Er ist mehr als ein Freund, schliesslich sind sie die Zwillinge. Sie erträgt es nicht, ihn mit Paola zu sehen – und er erträgt es nicht, dass sie es nicht erträgt: er trennt sich von Paola.
Alfredo hatte sich wirklich in Paola verliebt. Aber ich war ein Teil von ihm, und der Überlebenstrieb ist stärker als die Liebe.
Mit dem Tag, an dem Alfredos grosser Bruder schliesslich keinen Ausweg mehr sieht und den grausamen Vater ermordet, beginnt erst der wirklich brutale Teil dieses Buches. Alfredo lebt nun allein – Eltern tot, grosser Bruder im Gefängnis, kleiner Bruder adoptiert – und verfällt dem Heroin.
Eine lange, quälende Zeit beginnt, ein nervenaufreibendes Auf und Ab, eine Zeit der Fürsorge und der Manipulation, Bea braucht “die Geduld, jemanden lieben zu müssen, der einen quälte” und bringt sie auf – bis zum letzten Moment, bis klar ist, dass es von Anfang an keine Aussicht auf Rettung gegeben hat. Und die Geschichte ist noch nicht ganz zu Ende…
Valentina D’Urbano (bzw. ihre Übersetzerin Constanze Neumann) hat eine kraftvolle, schnörkellose Sprache gefunden, die die Schwere des verarbeiteten Stoffs stärkt. Eine grenzenlose Traurigkeit untermalt diese Geschichte – selbst in den seltenen Momenten, in denen gelacht wird. Es sind bittere, in Verzweiflung versinkende Lebensgeschichten, die der Roman zeichnet. Und doch: in der Figur von Bea, die nicht aufgibt, die ihre Lage nicht einfach akzeptiert, sondern stets für das bessere Leben eintritt, liegt auch ein leiser Anklang der Hoffnung über dem Geschehen.
“Auch die Ärmsten der Armen brauchen eine Geschichte”: so lautet die Widmung zu Beginn. Mit diesem Buch gibt ihnen Valentina D’Urbano nicht nur eine Geschichte, sondern vor allem eine lautstarke Stimme. Ein gnadenloser, ergreifender Roman, der sehr schwer auf dem Magen liegt.