Rezension: Ursula Ackrill – Zeiden, im Januar (Wagenbach 2015)

Ursula Ackrills Debütroman “Zeiden, im Januar” widmet sich der wechselhaften Geschichte der Siebenbürger Sachsen, einer deutschsprachigen Gemeinschaft im heutigen Rumänien, insbesondere der Zwiegespaltenheit der Sachsen gegenüber dem ursprünglichen “Mutterland Germania” zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der Text, unlängst nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse, krankt ein wenig an mangelhaft ausgearbeiteten Charakteren, zündet dafür sprachlich ein Feuerwerk.

ackrill

Zeiden, das ist eine kleine Stadt im Burzenland im Herzen der Karpaten, gegründet 1265 vom Deutschen Orden, vor dem Zweiten Weltkrieg zu einem grossen Teil bewohnt von Siebenbürger Sachsen. Im Januar, das heisst konkret: am 21. Januar 1941. Dieser Tag, von 6:45 bis 22:59 Uhr, bildet die Haupterzählachse des Textes. In Zeiden, einsam im Haus des im ganzen Dorf verehrten, unter ungeklärten Umständen verschwundenen Aviatikers Albert Ziegler, lebt die Chronistin Leontine Philippi. Sie ist die Protagonistin des Textes, eine Kassandra der Siebenbürger Sachsen, deren Mahnung vor drohendem deutschem Unheil niemand Glauben schenken will.

Zu gross sind die Hoffnungen, die die Sachsen in Hitlers Vormarsch setzen. Sie, die ursprünglich Deutschen, ausgewandert im Mittelalter, die schon zum Königreich Ungarn, zum Fürstentum Siebenbürgen, zur österreichisch-ungarischen Monarchie und seit Ende des Ersten Weltkrieges zu Rumänien gehörten, aber immer Aussenseiter blieben, sehen sie endlich gekommen: die Chance, einer “Gemeinschaft einverleibt zu werden, die uns nicht als Fremdkörper bekämpft.”

Die Nationalsozialisten freilich scheren sich kaum um diese siebenbürgische Minderheit. Den Sachsen ist es nicht erlaubt, in die deutsche Armee einzutreten, einzig der Zugang zur Waffen-SS steht den qualifiziertesten unter ihnen frei. Nach der Ermordung des jüdischen Ramschhändlers Brick erkennt Leontine die Bedrohung, die von Juden nur allzu leicht auf andere Minderheiten überzutreten droht. Fortan versucht sie als Warnerin den Sachsen die mangelnde “indigene Selbstverständlichkeit” einzureden, die die Gemeinschaft trotz ihrer “retardierten Nettigkeiten, gutgemeinten Fiaskos und ihr(em) generelle(n) Mondkälbertum” vor dem Sturz ins nationalsozialistische Unheil bewahren soll.  Erfolglos. Zwischen ihrer rumänischen Haushälterin Maria, dem ehemaligen Freund Herfurth, der Apothekerin Edith Volskgruppenführer Schmidt und dem späteren Nazi Klein sucht sich die alternde Prophetin eine Stimme zu verschaffen.

Ursula Ackrill (*1974 in Kronstadt, Siebenbürgen), die als Bibliothekarin im englischen Nottingham arbeitet, hat als promovierte Germanistin eine literaturtheoretische Vorbildung, die in der Struktur und Erzählweise von “Zeiden, im Januar” deutlich zum Ausdruck kommt. Der Text ist in kurze, meist mit Orts- und minutengenauer Zeitangabe versehene Kapitel gegliedert, die wild zwischen  etwa 1900 und 1941 umherspringen, mal dreissig Jahre vor, dann wieder wenige Minuten zurück. Das ist verblüffend, durchdacht, aber auch verwirrend. Das Vertiefen in einen Erzählstrang oder einer Figur wird stets geschickt unterbunden. Die genauen Abläufe des 21. Januar 1941, die Figuren, ihre Biographien, Motivationen und gegenseitigen Beziehungen, muss man sich nach und nach aus Versatzstücken zusammensetzen. Das mag intellektuell fordernd sein, hat aber in diesem Falle den Nachteil, dass keine wirklich konsistenten Charaktere entstehen können. Vieles bleibt schwammig und so unklar, dass selbst die im Anhang gedruckten kurzen Figurenbiographien keine Besserung mehr eintreten lassen. Die Formvollendung, wie man so schön sagt, gereicht hier leider zum Nachteil.

Umso mehr dagegen vermag die Sprache zu begeistern: Ursula Ackrill zündet ein regelrechtes Feuerwerk an schillernden Adjektiven, verschrobenen Verben und seltsam unverblümter Formulierungen. Auch die deutsche Sprache, so wirkt es, ist in Siebenbürgen eine etwas andere, mit charmanten Eigenheiten ausgestattete.


“Der Wind schwärmt Schneeflocken an ihr Fenster. Sie rieseln vorbei. Aus ihrem Hof hatte sie den Berg nicht sehen können, nur das Bergelchen davor. Er steckte in der Wolke, die nun über Zeiden hinwegrollt. Leontine steht in ihrer Küche im Morgenrock, wollbestrumpft und gestiefelt, die Tür weit geöffnet, und wendet eine pfannevoll Fischteile.”

“Zeiden, im Januar” ist ein im Historischen fundiertes, im Alltäglichen präzises Werk von bisweilen rauschhafter Formulierlust und spürbarer Hingabe an die Aufarbeitung seines Themas. Dass es hinsichtlich der Porträtierung seiner Charaktere etwas blass und aufgrund seiner Form verwirrlich bleibt, sei ihm verziehen. Die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse ist überraschend, aber nicht unverdient: Mit Ursula Ackrill empfangen wir eine einzigartige neue Stimme in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.


Andere Stimmen zum Buch:

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Ursula Ackrill ist nicht die erste Autorin, die sich der Geschichte der Siebenbürger Sachsen – insbesondere in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg – literarisch annimmt. Erwähnenswerte Vorgänger sind etwa: “Wenn die Adler kommen” von Hans Bergel (1996),  “Der geköpfte Hahn” von Eginald Schlattner (1998), “Capesius, der Auschwitzapotheker” von Dieter Schlesak (2006) , beruhend auf einer wahren Geschichte, oder der Erzählband “Die Wildgans”, wiederum von Siebenbürgens wohl bekanntester Stimme Hans Bergel (2011).

Ackrill, Ursula. Zeiden, im Januar. Berlin: Wagenbach 2015. 256 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-8031-3268-0


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