Die Gesammelten Erzählungen des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer, von Diogenes anlässlich seines 75. Geburtstags 2013 in edler Ausgabe veröffentlicht, liegen nun auch im Taschenbuch vor. Die 32 Texte bieten einen hervorragenden Einstieg in den vielfältigen, kunterbunten Kosmos des inzwischen leider verstorbenen Autors, der mit Recht zu den Grossen der Schweizer Gegenwartsliteratur gezählt werden darf.
Titel: Gesammelte Erzählungen
Autor: Urs Widmer
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-24240-9
Umfang: 768 Seiten, Taschenbuch
Der erste Teil des vorliegenden Bandes versammelt die sechs längsten Erzählungen, allesamt Texte, die bei Widmers Hausverlag Diogenes ursprünglich als Einzelausgabe erschienen waren. Den Anfang macht Widmers Debüt “Alois”, der nicht nur aufgrund seiner chronologischen Position noch immer einer der bemerkenswertesten Texte des Autors ist. In einem Interview sagte er 2013 über seine Schriftstellerwerdung: “Und dann habe ich 1967 in Frankfurt ein Papier in die Maschine gespannt, und “es” schrieb. Das war dann diese kleine Broschüre “Alois”.”
“Alois” ist surreal, eine lose Abfolge von Eindruckssequenzen denn Handlung, “ein Erzählbouquet, lauter Farben und lose Miniaturen”, wie Beatrice von Matt in ihrem Nachwort schreibt. Dennoch erscheinen in dieser eigenartigen Vermengung von Western, Comic, Popliteratur und Bildungsroman bereits Motive, die Widmers gesamtes erzählerisches Schaffen geprägt haben: der Ich-Erzähler, sein Begleiter (hier Alois), die grosse Bedeutung der Kindheit und eine prominente Vaterfigur etwa.
Obschon Widmers erzählerisches Werk, wie dieser Sammelband eindrücklich beweist, enorm vielfältig ist, der Autor mit unterschiedlichsten Gattungen, Formen und gar Sprachen – “Liebesbrief für Mary” (1993) ist grösstenteils in (helvetisch angehauchtem) Englisch geschrieben – spielte, haben ihn bestimmte Themen ein ganzes schriftstellerisches Leben lang begleitet. Neben den bereits erwähnten ist auch der Topos des Künstlers hervorzuheben, den Widmer sehr oft thematisiert: seine Künstler – seien es Schriftsteller, Maler oder Musiker – leiden, ja scheitern oft an ihrer unbedingten Hingabe zur Kunst. Etwa der Maler in der genialen Erzählung “Indianersommer” (1985), der nicht mehr malt, obwohl noch so viele Bilder in ihm sind; der verstummte Sänger in “Orpheus, zweiter Abstieg”; (1997) der schrecklich verwirrte Opernkomponist in “Die schreckliche Verwirrung des Giuseppe Verdi” (1977); und so weiter. Häufig auch erscheinen die Künste im Lichte ihrer mystischen Dimension, so beispielsweise wiederum in “Indianersommer”, wo ein Höhlenmaler merkwürdige Symbole für alles Ausgestorbene in den Fels ritzt. Oder der Ich-Erzähler in “Liebesbrief für Mary”, der einer Aborigine-Songline quer durch die australische Wüste folgt.
Im bereits oben zitierten Interview sagte Widmer: “Ich habe lebenslang einen großen Grundpessimismus gehabt. Ich bin ein Katastrophiker. Aber ich bin auch stets in der Lage gewesen zu spalten: In meinem Alltag hat so viel Optimismus Platz und viel Lust. “ Diese Spaltung kommt auch in vielen seiner Erzählungen deutlich zum Ausdruck. Obschon Widmer ein Meister der verzweifelten Verirrung und der kuriosen Grausamkeiten des Lebens ist, obschon es in diesen Geschichten Verleger gibt, die von ihren eigenen Büchern erschlagen werden, Leute, die von ihrer eigenen Selbstschussanlage zerschossen werden, obschon er wundersam desperate Sätze schreibt wie “Kein Mensch ist für die Temperaturen gebaut, die die Liebe erzeugt.” (Aus: “Eine Herbstgeschichte”), bleibt doch auch häufig Platz für mindestens einen Funken Optimismus – und für Humor. Manche der kürzeren Geschichten, etwa “In Amerika” (1972), sind wahre Perlen dieses hintergründigen Widmer’schen Humors.
Und dann ist da wieder dieser Maler in “Indianersommer”: Plötzlich nimmt er eine Tuba zur Hand und beginnt zu spielen. Er will “ein Virtuose in der Kunst werden (…), laute Instrumente leise zu spielen.” Auch Urs Widmer war – in übertragenem Sinne – ein Virtuose in dieser Kunst: sein Ton ist mal ruhig und besonnen, mal kurvenreich und verspielt, niemals jedoch angeberisch oder laut schreiend. Der Adjektive sind viele, mit der man seine Sprache zu etikettieren vermöchte, eines aber trifft immer: sympathisch.
“Das Schreiben ist das Ziel, nicht das Buch” lässt er seinen Ich-Erzähler in “Das Paradies des Vergessens” (1990) sagen. Ein schickes Bonmot, und doch sind wir selbstverständlich froh, hat es dieses Geschriebene oft genug ins Buchformat geschafft, so dass uns die erzählerische Freude, die Fabulierlust, der Witz und das Wissen dieses grossen, facettenreichen Erzählers für immer erhalten bleiben.