Sechs Romane hat der Schweizer Autor Tom Zürcher geschrieben. Veröffentlichen lassen hat er davon bislang zwei: vor achtzehn Jahren die irrwitzige Detektivstory “Högo Sopatis ermittelt” (Eichborn, 1998) und unlängst “Der Spartaner” (Lenos Verlag, 2016). Es sind die Aufzeichnungen eines jungen Mannes auf der Suche nach Freiheit, Wahrheiten und seiner Rolle im “grossen Bürgertheater”. Ein Roman, der darauf hoffen lässt, dass Tom Zürcher dereinst auch seine noch in der Schublade ruhenden Werke der Öffentlichkeit vorstellen wird.
An einer Klassenzusammenkunft zückt ein junger Mann, den alle nur den “Spartaner” nennen, eine Pistole… Der Ich-Erzähler des Romans, ein guter Freund des Spartaners, wird nach dieser Katastrophe in ein Privatsanatorium eingeliefert. Er nennt es “Hotel ohne Fenster”. Akribisch hält er alle Eindrücke, Gedanken und Gespräche fest: die Absurditäten seiner Mitinsassen “Buffi” und “Fanolo”, die täglichen Sitzungen mit seiner Ärztin, den Konflikt mit seiner Mutter, Fragmente der Vergangenheit, die nach und nach an die Oberfläche dringen und den Leser Schritt für Schritt rekonstruieren lassen, was vorgefallen ist bzw. vorgefallen sein könnte.
Ein Lieblingssatz des Protagonisten ist: “Es gibt keine Wahrheit, es gibt hundert.” Wie viele seiner Leitzitate schreibt er ihn dem Spartaner zu, dessen bedingungslose Freiheit und Ablehnung des “grossen Bürgertheaters” er idolisiert. Zwei Wege sind ihm gegeben, diesen Wahrheiten auf die Spur zu kommen: das Schreiben und die Gespräche mit “seiner” Ärztin, mit der ihn bald ein seltsames Verhältnis verbindet, das über die übliche Vertrautheit von Arzt und Patient hinausgeht.
“Schreiben Sie einfach drauflos, hat sie gesagt. Schreiben Sie alles auf, was Ihnen durch den Kopf geht. Mir geht allerhand durch den Kopf, wissen Sie. Gedanken sind wie weisse Kanninchen. Kaum ist mehr als einer da, rammeln sie drauflos, und plopp! sind es hundert, und alle hoppeln durcheinander und knabbern meine Kabel an.”
Die Konstruktion des Romans ist geschickt angelegt: Aufzeichnungen und Sitzungsprotokolle (ebenfalls vom Ich-Erzähler angefertigt, “wortwörtlich, wie er vorgibt) wechseln sich ab. Oftmals beziehen sie sich aufeinander: die Aufzeichnungen werden in den Sitzungen besprochen, die Sitzungen in den Aufzeichnungen nachbearbeitet. So clever wie der Roman strukturiert ist, so routiniert ist er stilistisch ausgefertigt. Besonders hervorzuheben ist hierbei die handwerkliche Meisterschaft der Dialoge. Sie sind rasant, humorvoll, nachvollziehbar und niemals künstlich überspitzt, sondern nahe an einer vertrauten Alltagssprache: eine Qualität, die nicht hoch genug gelobt werden kann, scheitert doch manch ein ansonsten hochbegnadeter Schriftsteller an der Klippe des Dialogs. Nicht Tom Zürcher.
“Der Spartaner” ist ein raffiniertes Spiel, in dem die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Verrücktheit und gesellschaftlicher Konvention, Erinnerung und Verdrängung auf gleichsam unterhaltende wie tiefsinnige Art und Weise ausgelotet werden. Ein Roman, der mehr sein müsste, als lediglich ein Geheimtipp, ja: das Werk eines Autors, von dem man gerne mehr lesen möchte!
Hier geht es zu einem längeren Interview mit Tom Zürcher über sein Leben und Schaffen.
Zürcher, Tom. Der Spartaner. Basel: Lenos Verlag, 2016. 256 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978 3 85787 468 0