Rezension: Timothy Snyder – Black Earth: Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann (C.H. Beck, 2015)

Warum überlebten 99 % der dänischen Juden den Holocaust, während 99 % der estnischen Juden ermordet wurden? Unter anderem anhand dieses Beispiels gleist der renommierte amerikanische Osteuropa-Historiker Timothy Snyder seine Theorie zur Entstehung der Gewaltverbrechen des Zweiten Weltkriegs auf. “Black Earth” ist eine detailreiche Studie mit starken, durchaus polemischen Thesen und einem alarmistischen Brückenschlag von den Dreissigerjahren ins 21. Jahrhundert.

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Snyder, der in “Black Earth” diverse Themen aus seinem vieldiskutierten Buch “Bloodlands: Europe Between Hitler And Stalin” (2010) wieder aufgreift, vertritt im Grunde folgende Kernthese: Der Massenmord der Nazis an den europäischen Juden wurde überall dort möglich, wo staatliche Strukturen zerstört worden sind und die Juden dementsprechend, ohne den Schutz gewährenden Rückhalt eines Bürgerrechts, in einem quasi anarchischen Umfeld vernichtet werden konnten. Aus diesem Grund starben die allermeisten Juden nicht etwa in Deutschland oder im restlichen Zentraleuropa, sondern in den Staaten des Ostens: Polen, dem Baltikum, der Ukraine und der westlichen Sowjetunion.

Um seine Argumentation stringent zur These hinzuführen, wendet sich Snyder zunächst der Frage zu, wie es überhaupt zum Holocaust kommen konnte. Er fasst dabei Adolf Hitler als politischen Denker ins Auge, bezieht sein Quellenmaterial oftmals aus dessen Manifest “Mein Kampf” (1925/26). Die Quintessenz, die Snyder aus Hitlers Weltauffassung zieht, ist in etwa folgende: Für Hitler war die Natur die einzig gültige Wahrheit, gleich den Arten im Tierreich befinden sich die menschlichen “Rassen” in einem ewigen Kampf, der schliesslich alle politischen Grenzen zerstören würde; es gilt das “Gesetz des Dschungels” (Snyder). Der Jude nun war für Hitler aber eine “Nicht-Rasse”, am Ursprung einer Weltverschwörung, mit der er “den Menschen weismachte, sie stünden über anderen Lebewesen und verfügten über die Fähigkeit, selbst über ihre Zukunft zu bestimmen.” (Snyder). Hitler war demgemäss kein deutscher Nationalist, sondern ein Fanatiker, dessen Weltbild auf einer gefährlichen Mischung aus religiösen und zoologischen Ideen beruhte. Die einzige Moral in diesem Weltbild war die Loyalität gegenüber der eigenen Rasse.

Mit dieser paradoxen Philosophie – Hitler, ein politischer Denker, der die Politik zerstören will – im Hinterkopf macht sich Snyder daran, den Hergang des Holocaust, gestützt auf Unmengen von Quellen, zu erläutern. (Der Historiker, der angeblich elf europäische Sprachen beherrscht, zitiert unter anderem Quellen aus polnischen, russischen, ukrainischen, israelischen und deutschen Archiven – alles, wissenschaftlich sauber, in einem umfangreichen Anhang mit Fussnoten und Bibliographie offengelegt.) Ausführlich schildert Snyder etwa die gescheiterte polnisch-deutsche Diplomatie der Vorkriegszeit und beginnt anschliessend im Kapitel “Die Staatszerstörer”, die ersten Anzeichen des Massenmords anhand der Staatszerschlagungen von Österreich, der Tschechoslowakei und Polen darzulegen.

Der bei weitem opferreichste Teil des Holocaust spielte sich noch weiter östlich ab, in jenen Gebieten Polens und des Baltikums etwa, die zunächst von der Sowjetunion und dann von den Deutschen besetzt wurden. Mit detaillierten Darstellungen der Vorkriegssituation der betroffenen Länder, versucht Snyder klarzumachen, dass einzig die Zerschlagung der staatlichen Strukturen, nicht etwa ein bereits zuvor vorhandener aggressiver Antisemitismus, den unbeschreiblichen Massenmord an Juden ermöglicht hat.

Ins Auge gefasst werden sodann die mannigfaltigen Verstrickungen lokaler Kollaborateure, darunter auch vieler sowjetischer Kommunisten, die sich an der Ermordung der Juden beteiligten. Mit einer geschickten Mischung aus kontinental übergreifenden Perspektiven und detailliert geschilderter Einzelbiografien entfaltet Snyder das Panoptikum der Grausamkeit, die sich über ganz Europa ausbreitete.

Im eindrücklichen Kapitel “Das Auschwitz-Paradox” kommt die Sprache schliesslich auf die teilweise bis heute andauernde Verdrängung dieser im Osten Europas vollstreckten Greueltaten. Vielfach wird das “Vernichtungslager” Auschwitz als Kurzformel für den Holocaust verwendet; ein Lager, in dem wesentlich mehr Menschen überlebten als an den Todesgruben in Osteuropa wie auch in den vier anderen “Vernichtungslagern” (Treblinka, Belzec, Sobibor und Chelmno), wo ein Überleben beinahe ausgeschlossen war. Snyder schreibt:

“Begrenzt man den Massenmord an den Juden auf einen Ausnahmeort und betrachtet man ihn als das Ergebnis unpersönlicher Prozesse, dann müssen wir uns nicht mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Menschen, die sich gar nicht so sehr von uns unterscheiden, andere Menschen, die sich gar nicht so sehr von uns unterscheiden, in unmittelbarer Nachbarschaft ermordeten.”

Ein harter, aber durchaus bedenkenswerter Vorwurf an die Generationen der Nachkriegszeit und eine Mahnung an jene, die noch folgen werden.

Weiter handelt Snyder präzise und kompakt, einen nach dem andern, die Situationen in den mit Deutschland verbündeten Staaten vor und während des Krieges ab: in den “Marionettenstaaten” Kroatien und Slowakei, in den freiwillig verbündeten Staaten (Italien, Rumänien, Bulgarien und Ungarn) sowie in einigen der von Deutschland auf dem Schlachtfeld besiegten Nationen, die aber ihre staatlichen Strukturen zu einem gewissen Grad, wenn auch unter deutschen Bedingungen, erhalten konnten (etwa Frankreich, die Niederlande und Griechenland).

Letztlich wird im wiederum sehr beeindruckenden Kapitel “Die wenigen Aufrechten” anhand diverser Einzelbiografien ein Licht auf die wenigen individuellen Retter geworfen, die unter Bedrohung des eigenen Lebens Juden retteten. Leute, die unseligerweise nach Kriegsende selten als Retter gefeiert wurden, sondern oftmals als Kriegsverbrecher inhaftiert wurden – prominentestes Beispiel hierfür ist wohl Wilm Hosenfeld, der dem polnischen Pianisten Szpilman zur Flucht verholfen hatte.

“Black Earth: The Holocaust as History and Warning” lautet der Originaltitel des Buches. Hiervon sind 340 Seiten “history” und die letzten knapp dreissig Seiten “warning” – Snyder wagt den Brückenschlag ins 21. Jahrhundert und gibt sich als alarmistischer Prophet, der in den weltpolitischen Wirren unserer Zeit und insbesondere auch in der Unvorhersehbarkeit des “Klimawandels” und seiner Konsequenzen Parallelen zu den Entstehungsbedingungen des Holocaust sieht. Wenn auch manch ein Vergleich nicht ganz handfest erscheint, so sind die Grundthesen dennoch bemerkenswert – und beunruhigend. Snyder behandelt die aktuellen Verflechtungen von Asien und Afrika, wobei insbesondere China, das Afrika als mögliche Lösung für seine Ressourcenknappheit betrachtet, gewisse Parallelen zur Situation im Deutschland der 1930er-Jahre aufzuweisen scheint. Des Weiteren benennt er den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, in welchem er von russischer Seite eine dem Nationalsozialismus ähnliche Rhetorik erkennen will; und er benennt die USA, die bei ihrem Vorgehen im Irakkrieg dem gefährlichen Trugschluss unterlegen seien, Freiheit entstehe aus dem Fehlen staatlicher Autorität. Und genau das hat ja eben, wie Snyder in dieser Studie zeigt, den schrecklichsten Massenmord der Geschichte erst ermöglicht.

Timothy Snyder polarisiert mit seinen Thesen – ein Blick auf die durchweg gemischt ausfallenden Kritiken bestätigt dies -, doch seine Argumentation ist in sich stimmig und basiert auf jahrelangen Studien und profunder Quellenauswertung, so dass sowohl seine Interpretation des Holocaust wie auch sein mahnender Zeigefinger in Richtung Zukunft ergreifende Lektüre sind, die letztlich dazu anregt, sich mit seinem eigenen Standpunkt in der heutigen Welt vertieft auseinanderzusetzen.

Snyder, Timothy. Black Earth: Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. Aus dem Englischen von Ulla Höber, Karl Heinz Siber und Andreas Wirthensohn München: C.H. Beck 2015. 488 S., gebunden m. Schutzumschlag, mit 24 Karten. 978-3-406-68414-2


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