Scheiße, ich sterbe.
Mary und Lovely sind beste Freundinnen. In ihren Tagträumen stellen sie sich vor in ihrer eigenen kleinen Wohnung in London zu wohnen und jeden Tag Zimttee zu trinken und Rauchrosen in den Himmel zu pusten. Obwohl die anderen die zwei Mädchen für verrückt halten, sind sie unzertrennlich und teilen den Weltschmerz gerecht untereinander auf - denn das Leben ist für beide ein öder und trister Ort, den nur Nagellack (in der Farbe "cherry red") und Luchslyric besser machen können. Sie verachten das Mittelmaß und kämpfen gegen ihre Einsamkeit an, doch die Fassade beginnt zu bröckeln, denn hinter ihrem knallroten Lippenstift, scheint Lovelys Schmerz nicht aushaltbar und auch Mary kann der Realität nicht ewig entkommen.
Sanne Näslings Schreibstil besteht aus Rauchrosen (genau die, die Lovely das ein oder andere Mal in den Himmel bläst) und einer Farbvielfalt, wie man sie nur in einem Pfauengefieder finden kann. Er ist anders, kurios, völlig inhaltlos und scheint trotzdem voller Bodenfallen und doppelter Wände zu sein. Mit einer todtraurigen und melancholischen Poesie, die gleichzeitig lebensbejahend und lebensverneinend zu sein scheint, erschafft Näsling eine atmosphärische Geschichte, die gerade durch ihren Schreibstil lebt. Die Geschichte ist aus der Ich-Perspektive von Mary geschrieben und besteht größtenteils aus Dialogen zwischen ihr und Lovely - hier sollte man definitiv Englisch können (Anfängerkenntnisse reichen aus!), denn die beiden sprechen einen Mix aus Deutsch und Englisch, der anfangs noch gewollt, mit der Zeit aber immer natürlicher wirkt. Das Buch liest sich wie ein alter, englischer Schwarz-Weiß-Film, der zwischenzeitlich von Farbnuancen unterbrochen wird und ist dabei schnell und verständlich lesbar - auch wenn man der Schönheit wegen an einigen Sätzen (gerne) ein bisschen länger verweilt.
Wenn man ein Buch kaum bewerten kann, was sagt das dann über die Geschichte aus? Normalerweise finde ich es relativ leicht, ein Buch zu bewerten, aber in diesem Fall möchte ich mich fast enthalten, wenn es denn ginge, denn "The Lovely Way" ist ein merkwürdiges, spezielles Buch. Es ist ein Buch ohne jeglichen roten Faden, das aus kurzen Kapiteln besteht, die wie kurze Szenen-Fragmente wirken. Als würden die Protagonisten in einem dunklen Raum sitzen und manchmal - nur für ein paar Sekunden - würde das Licht angehen und man würde einen Ausschnitt aus ihrem Leben sehen. Dabei scheinen die Szenen teils derart willkürlich zu sein, dass man sie beliebig hätte austauschen können und irgendwie ist das ganze Buch völlig inhaltlos und nichtssagen und scheint dennoch vor einer mir unerfindlichen Relevanz überzulaufen. Ob das Ganze jetzt positiv oder negativ ist? Na, wenn ich das doch selber mal wüsste.
Einerseits ein laut gebrülltes: JA! Warum? Ich mag es, wenn Bücher anders sind. Ich liebe es, wenn sie aus dem Rahmen tanzen, keinen Mustern folgen und sich abheben - auf welche Art und Weise das auch immer geschieht. Und man kann es nicht anders sagen: Die Geschichte um Mary und Lovely hebt sich nicht nur ab, sie scheint in einem ganz anderen Universum zu spielen. Wer also den normalen Jugendbuchkram erwartet, sollte schleunigst überlegen, ob er dieses Buch wirklich lesen will. Mary und Lovely sind nicht nur völlig entfremdet, sie sind auch verrückt und scheinen ihre ganz eigene Sprache und Welt gefunden zu haben. Ständig sprechen sie in Metaphern und Rätseln, schmücken Geschichten aus und erkunden sich gegenseitig (und ja, in diesem Fall auch körperlich - soweit ich das richtig mitbekommen habe!), während der Leser oft nur Bahnhof versteht. Ganz ehrlich? Ich habe das irgendwie geliebt.
Die Geschichte ist geprägt von der Sehnsucht der beiden Mädchen - in diesem Fall scheint vor allen Dingen Lovely die Person zu sein, von der diese Sehnsucht und die Melancholie ausgeht. Sie verfällt oft Panikattacken, kommt nicht zur Schule und ist auch sonst merkwürdig durchgeknallt. Man erfährt kaum relevante Details über sie, muss sich beinahe alles selbst zusammenreimen. Ja, sie ist ein einziges Geheimnis und alles, was ich über sie sage, ist im Grunde nur geraten. Hat sie Probleme mit ihrem Vater? Verletzt sie sich selbst? Ist sie depressiv? Manchmal schlich sich bei mir der Gedanke ein, dass Lovely Ähnlichkeiten mit Holly aus "Frühstück bei Tiffany" hat - aber dies nur am Rande. Oft werden Dinge
angedeutet, aber nicht weiter verfolgt und hier drängt sich auch schon das unsichere NEIN! in mein Bewusstsein, denn, ganz gleich wie gut die Geschichte geschrieben ist, sie wird niemals konkret. Sie spricht von Weltschmerz und Sehnsucht und dem Tod, aber sie weder eskaliert sie am Ende, noch löst sie sich in Luft auf.
Über Mary erfährt man da schon deutlich mehr, auch wenn hier ebenfalls vieles ziemlich unklar ist. Ihre Familienverhältnisse sind klar: Eine verwitwete Mutter mit einem neuen Freund, den Mary nicht mag. Durch die Ich-Perspektive ist Mary weit zugänglicher als Lovely und doch kann man nicht alles verstehen, was sie sagt und denkt. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie liebt Lovely so richtig, aber dann taucht ein anderen Typ auf, mit dem sie etwas hat und schließlich wird auch dieser Handlungsstrang nicht weitergeführt - wie gesagt, es ist ein einziges Durcheinander, das man kaum zu fassen weiß. Ein weiteres Detail, das ein definitives JA! verdient hat, ist der Umgang mit Sexualität, Alkohol, Gedanken, etc., denn auch wenn es nicht immer völlig konkret ist, mit der knallharten Realität wird nicht gegeizt. Weiterhin positiv ist dieser spezielle Umgang mit Farben und Worten, den ich ja schon im "Schreibstil" erwähnt hatte.
Letztendlich musste ich mich fragen, was diese Geschichte mir eigentlich gegeben hat und ehrlich gesagt: Ich komm nicht drauf.
Was sagt sie aus, wo führt sie hin? Warum läuft sie am Ende einfach so aus, als würde man mitten im Film einfach ausschalten? Bedeutet das, dass das Leben mittelmäßig und öde weiterverläuft, egal wieviel Zimttee man trinkt? Was geschieht mit Lovely, was mit Mary? Ziehen sie nach London oder bleibt all das nur ein Traum, den man nicht erfüllen kann? Ist dieses Buch tatsächlich nur unglaubliche Sprachtiefe ohne jeglichen Inhalt? Oder ist gerade diese vermeintliche Inhaltlosigkeit Trug und Schein und in Wirklichkeit spiegelt diese Geschichte, das Leben in seiner ganzen Hässlichkeit wieder? Vielleicht sind es genau diese Gedankengänge, die die Autorin bezweckt hat, vielleicht ist nichts falsch und nichts richtig, vielleicht ist diese Geschichte ein ganz großes Vielleicht, dass sich schön liest und am Ende genauso zerfließt, wie das Leben selbst.
Ist "The Lovely Way" der richtige Weg? Empfehle ich dieses Buch? Nein, ja, vielleicht, ich weiß es nicht! Ich denke nicht, dass der Stil jedem zusagen wird und wenn, dann nur jenen, die etwas für Sprache und Andersartigkeit übrig haben und auch ein wenig verrückt werden wollen. Wie dieses Buch ist? Wie ein Mix aus "Alice im Wunderland" (ohne Fantasyelemente) und "Frühstück bei Tiffany" und einer ganzen eigenen Nuance, die ich nicht benennen kann. Auch wenn es nicht so klingt, hatte ich mit der Geschichte um Lovely und Mary sehr viel Spaß und auch wenn man kaum etwas erfährt, so hatte ich doch immer Lust weiterzulesen und kam in den Genuss einer wunderbar poetischen und schrecklich nichtssagenden Geschichte, die doch so voller Inhalt ist. In dem Fall bleibt mir wohl nur eins zu sagen: Ich bin sprachlos. Lest es selber! Ich habe es geliebt und nicht ganz verstanden, falls es da überhaupt etwas zu verstehen gibt.
[mit einem komischen, unwissenden Gefühl im Bauch!]
Sanne Näsling, geboren 1983, lebt in Stockholm. Sie hat Literaturwissenschaft und Kreatives Schreiben studiert und u.a. als Lehrerin gearbeitet. »The Lovely Way« ist ihr hoch gelobter Debütroman. "Eine auf allen Ebenen höchst literarische Schilderung" und "Absolut fabelhaft" urteilte die schwedische Presse. [via Oetinger]
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Für die freundliche Bereitstellung des Rezensionsexemplars bedanke ich mich sehr herzlich bei