Mercy Thompson hat ihren Platz und ihre Stimme im Wolfsrudel der Tri-Cities gefunden. Doch eines nachts wird die Gestaltwandlerin von Vampiren entführt: Sie soll als Waffe gegen ihr Rudel und ihren Gefährten Adam eingesetzt werden. Mercy gelingt die Flucht. Und plötzlich findet sie sich allein, ohne Geld und ohne Kleidung mitten in Prag wieder. Sie muss neue Verbündete finden und alte Feinde abwehren, und vor allem muss Mercy Adam warnen. Denn im Herzen der uralten Stadt regt sich ein dunkler Geist. Mit dem Ziel, Krieg zwischen allen magischen Völkern zu stiften ... Quelle
Geschichte und Architektur
Mercy Thompson in Prag. Allein dieser kurze Satz sollte in jedem, der die taffe KFZ-Mechanikerin schon kennen lernen durfte, weihnachtliche Gefühle aufkommen lassen. Nicht wegen der besinnlichen Stimmung, sondern weil dieses Setting ein wahres Geschenk an die Leserschaft, gerade die europäische, sein könnte. In meinem Fall habe ich es so empfunden und ich kann mir auch sehr gut vorstellen, Mercy zukünftig irgendwo in Deutschland in Aktion zu erleben. (Zees Geschichte wurde zwar schon ganz gut aufgearbeitet, aber genug Stoff für eine weitere Reise über den großen Teich ist bestimmt noch übrig! Aber ich schweife ab.) Mir gefiel die Idee, die Handlung nach Prag zu verlegen auch deshalb sehr gut, weil ich vor einigen Jahren einen Schüleraustausch mit einer tschechischen Schule machen durfte (für jeden, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, ist „tschechische Schule" bestimmt ein übler Zungenbrecher ...) und damals auch einige Zeit in Prag verbrachte. Diese Stadt - oder zumindest die Teile, die ich in der kurzen Zeit anschauen konnte - ist wunderschön und bietet sehr viel Stoff für Legenden und Geschichten - und Schwärmerei über Architektur. Als ich damals den jüdischen Friedhof besucht habe, schossen mir selbst viele Ideen durch den Kopf, und die Altstädter Astronomische Uhr hat nicht dafür gesorgt, dass diese Ideen weniger wurden. Irgendwo habe ich sogar noch mein angefangenes Geschreibsel ... Jedenfalls konnte ich mir, nachdem ich den Klappentext gelesen hatte, sehr gut vorstellen, dass Mercy und ihre Großfamilie das eine oder andere Abenteuer in dieser tollen alten Stadt erleben würden. Und dass Patricia Briggs, die nicht nur ein Diplom in Deutsch, sondern auch in Europäischer Geschichte hat, diese Kulisse zu würdigen wüsste. Kurz gefasst: Meine Erwartungen waren goß.
Und - Überraschung! - sie wurden erfüllt! In meiner letzten Rezension zu Licia Troisis Die Eiskriegerin bin ich genauer auf das Worldbuilding eingegangen, das in Fantasyromanen keine unwichtige Rolle spielt. Dazu gehört auch, die Umgebung zu beschreiben und Mythen, die von Bedeutung sind, zumindest so ausführlich wiederzugeben, wie für das Verständnis der Leser notwendig ist. Briggs schreibt mit ihrem tollen Vokabular - oder dem der deutschen Übersetzerin Vanessa Lamatsch - sehr atmosphärisch über die Kopfsteinpflaster und Fassaden Prags, natürlich aus Mercys Sicht: einer Amerikanerin, die noch nie Bauwerke gesehen hat, die mehr als ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel haben. Dass sie da etwas ins Schwärmen geriet und das selbst für meinen Geschmack etwas ZU ausführlich wurde, ist nachvollziehbar. Einerseits ließ sich die Autorin von ihrer eigenen Passion hinreißen, andererseits ist es auch nur logisch, dass Mercy von einer vollkommen fremden, altehrwürdigen Umgebung fasziniert ist. Weniger schön, wenn auch verständlich ist für mich, dass bestimmte Legenden oder historische Begebenheiten so ausführlich erzählt wurden. Klar, es erklärt ein paar Details der Handlung genauer, aber wirklich notwendig war es nicht. Das hat leider an ein, zwei Stellen das Tempo gedrosselt, war aber nicht allzu schlimm. Kurz danach ging es wieder mit Volldampf weiter und die etwas langatmigen Szenen waren schnell vergessen.
Schokolade
(Na, habe ich eure Aufmerksamkeit?) 🙂
Dieser Band unterscheidet sich dahingehend von den bisherigen Titeln der Reihe, dass die einzelnen Kapitel nicht nur aus verschiedenen Perspektiven geschrieben sind, sondern sich zeitlich auch überschneiden oder auf andere Weise nicht linear verlaufen. So wird die Zeitlinie etwas durcheinander gebracht, aber kurze Kommentare von Mercy am Anfang eines jeden Kapitels entwirren die Gedankenknoten schnell wieder. Tatsächlich ist der Kommentar vor dem ersten Kapitel eines meiner Lieblingszitate aus Stille der Nacht:
Es war nicht das erste Mal, dass Schokolade mich in Schwierigkeiten gebracht hat.
Er gefällt mir nicht nur wegen des Inhalts so gut - ich meine, Schokolade, hallo? -, sondern auch, weil mit diesem einen Satz der Rahmen für das ganze Buch gegeben wird. Was ich damit meine, werdet ihr verstehen, sobald ihr es gelesen habt.
Das gewisse Etwas
Wer meine Instagram-Stories verfolgte, als ich Stille der Nacht gelesen habe, wird sich vielleicht an das Bild rechts erinnern. Bevor die Handlung überhaupt richtig in Fahrt kam, war ich schon wieder hin und weg von Briggs' Schreibstil und ihren wunderbaren Charakteren. Die Geschichte beginnt an einem sogenannten Piratenabend des Werwolfrudels: jeder spielt einen virtuellen Piraten in einem Computerspiel. Ziel ist es, der letzte Überlebende zu sein - und Jesse, die Teenagertochter des Alphas, scheint auf dem besten Weg zu sein, zu gewinnen, was natürlich die großen, starken Werwölfe nicht einfach so hinnehmen können. Allen noch lebenden „Piraten" ist es außerdem untersagt, einander mit dem Real-Life-Namen anzusprechen oder generell normal, nicht „piratig", zu reden. Wie amüsant die Dialoge während dieser Szenen waren, kann sich jetzt jeder selbst ausmalen ... Ich jedenfalls konnte mir das Lachen mehrfach nicht verkneifen.
Ich würde jetzt gern schreiben „An anderer Stelle verging mir das Lachen sehr schnell", doch das würde einfach nicht der Wahrheit entsprechen. Der Ton blieb die ganze Zeit über humorvoll und einfach großartig. Damit meine ich nicht, dass die Handlung einfach seicht vor sich hin plätscherte oder alles ach so witzig war. Nein, es gab durchaus ernste Szenen und Momente, die alles andere als lustig daher kamen. Aber es gibt diesen ganz besonderen Unterton, den ich nicht genauer definieren kann und für Patricia Briggs' höchst eigenen Stil halte. Dieser Stil ist es, der mich die Mercy Thompson-Reihe so lieben lässt - neben den Charakteren, natürlich.
Charaktere
Mercy kennen wir ja bereits als Überlebenskünstlerin, die alles andere als auf das Werwolfrudel ihres Mannes angewiesen ist. Auf einem fremden Kontinent und in Gefangenschaft auf sich allein gestellt zu sein, ist allerdings eine ganz andere Hausnummer. Wie sie diese Situation meistert, werde ich nicht verraten, nur so viel: Sie ist ganz Mercy.
Adam zeigt mal wieder, dass Diplomatie nicht seine Stärke ist, er aber durchaus darauf zurückgreifen kann, wenn es sein muss - und diesmal kommt er wirklich nicht darum herum!
Ich liebe diese beiden einfach. Hier zeigen sie ganz unabhängig voneinander, was sie draufhaben und ich bin einfach nur begeistert. Allerdings gestehe ich, die Mercy-Kapitel immer wieder herbeigesehnt zu haben, da ich die Handlung dort einfach spannender fand. (Vampir-) Politik ist einfach nicht mein Ding ... Das heißt aber nicht, dass Adams Kapitel langweilig waren, ganz und gar nicht! Gerade die neuen Charaktere, die wir aus Adams Perspektive kennen lernen durften, waren ziemlich spannend. Ich hoffe, dass sie weiterhin von Bedeutung bleiben werden. So langsam wächst die Gruppe an liebenswerten Figuren zu einer beachtlichen Masse heran. Ich freue mich über jeden einzelnen Neuzugang und bin sehr gespannt, was noch kommt!
Stille der Nacht befasst sich mit einer der bekanntesten Prager Legenden und ohne jetzt genau zu verraten, worum es geht, sei nur so viel gesagt: Dem historischen Wert des Mythos wird die Geschichte absolut gerecht und bringt ihren eigenen Touch so ein, dass das Ergebnis einfach großartig in den Rest der Mercy Thompson-Reihe passt. Es fällt mir fast schwer, die eigentliche Legende von Briggs' Fantasie zu trennen. Das ist ebenfalls ein Aspekt, den ich sehr an ihren Büchern liebe.
Außerdem tritt eine Figur, die bereits seit dem ersten Band Ruf des Mondes namentlich bekannt ist, endlich auch in Fleisch und Blut in Erscheinung und nimmt eine wichtige Rolle im Verlauf dieser Geschichte ein. Sie gehört nicht zu meinen Lieblingscharakteren, aber ich freue mich, sie endlich „persönlich" kennen zu lernen.
Das Setting in Europa bringt einen tollen Tapetenwechsel mit sich und auch neue Herausforderungen, denen sich unsere Helden stellen müssen. So sehr ich diese Reihe auch liebe - wenn sich nur immer alles um die Tri-Cities dreht, ist irgendwann die Luft raus. Briggs hat an genau der richtigen Stelle für frischen Wind gesorgt und diese Veränderung des Schauplatzes super eingesetzt. Wie eingangs schon kurz erwähnt hoffe ich, dass es Mercy und ihr erweitertes Rudel irgendwann mal nach Deutschland verschlägt und sich so das „Das kenne ich, da war ich schon mal!"-Gefühl, dass ich beim Lesen der Szenen in Prag hatte, noch verstärkt. In Deutschland gibt es schließlich auch genug Legenden, denen man auf den Grund gehen könnte bzw. die zum Leben erwachen und Mercy an den Kragen wollen könnten ... Just saying.
In meinen Notizen, die ich vor dem Verfassen dieser Rezension geschrieben habe, stehen jetzt nur noch ein paar Stichpunkte, die ich unmöglich in Sätze verpacken kann. Deshalb lasse ich sie einfach mal so, wie sie sind, hier stehen und für sich selbst sprechen:
- ICH LIEBE MERCY UND DAS RUDEL!!!
- Lachen, weinen, alles dabei.
- Absolut großartiger Schreibstil, ich liebe diese Autorin!
- Kann ich einen eigenen Adam haben, bitte? Und Ben? Und Stefan und Warren, wenn wir schon dabei sind? Pretty please?
Tatsächlich habe ich beschlossen, dass die Reihe um Mercy Thompson spätestens jetzt Harry Potter als meine Lieblingsbuchreihe ablöst. Harry Potter gefällt mir immer noch sehr und besonders die vielen Details, die mir gerade bei Re-reads immer wieder neu auffallen und andeuten, wie viele Gedanken sich J. K. Rowling beim Schreiben gemacht haben muss, begeistern mich sehr. Doch Mercy reißt mich inzwischen mehr mit und ich bin Hals über Kopf ihrer Geschichte verfallen.
Liebe Patricia Briggs, ich liebe Mercy. Ich liebe Adam. Ich liebe Jesse. Ich liebe das ganze Rudel. Und Stefan. Und überhaupt irgendwie alle! Sogar die Bösewichte haben einen gewissen Charme und Witz. Und die kleinen Exkurse in Geschichte, Mythologie und Sprache machen das einfach nur noch besser, ohne die Handlung unnötig in die Länge zu ziehen. Ich liebe diese Reihe und habe jetzt auch meine Schwester „gezwungen", sie zu lesen, damit ich endlich jemanden habe, dem ich begeistert davon erzählen kann und der dann auch versteht, wovon ich spreche. Danke, danke, DANKE für diese tolle Romanreihe!
PS: Bitte schreiben Sie noch viel, viel mehr Bände! Bis dahin werde ich endlich die Alpha & Omega-Reihe lesen, die ja ebenfalls ins „Mercyverse" gehört ...
Patricia Briggs | Stille der Nacht. Mercy Thompson 10 | übersetzt von Vanessa Lamatsch | Originaltitel: Silence Fallen - Mercy Thompson Book 10 | Verlag: Heyne | ET 09.01.2018 | 480 Seiten | ISBN: 978-3-453-31903-5 | TB: 9,99 € / eBook: 8,99 € | Leseprobe | REX
In meinem Reihentipp erzähle ich euch noch etwas genauer, warum mich die ganze Reihe um Mercy Thompson so begeistert - hier ging es ja eigentlich erst mal nur um Band 10:
Reihenübersicht
(Ich verlinke hier jetzt mal nicht jede einzelne Rezension, die ich zu den bisherigen Titeln der Reihe geschrieben habe. Wer eine Auflistung sucht, wird in meinem Rezensionsindex, mit dem Suchfenster rechts oben oder auch im oben verlinkten Reihentipp fündig.)
Weitere Meinungen
„So wechseln sich packende Szenen, wie wir sie von den Mercy-Thompson-Romanen gewohnt sind, mit gemächlichen Beschreibungen [...] ab, die den Plot verlangsamen und nicht wirklich überzeugen."
Carsten Kuhr, Phantastik-News.de„Briggs zeigt mal wieder ein großes Talent dafür, Charaktere, Handlung und Welt so zu fusionieren, dass man nicht genug von der Reihe bekommt."
Diana von Gwees BücherweltWenn auch Du eine Rezension zu diesem Buch geschrieben hast, schicke mir den Link einfach als Kommentar, E-Mail, auf Twitter, Instagram oder Facebook und ich füge ihn gern dieser Liste hinzu!
QOTD: Mythen und Legenden
Mercy Thompson und das Columbia Basin-Rudel begegnen immer wieder Wesen, die der wilden Fantasie längst ausgestorbener Völker entsprungen zu sein scheinen. Hinterlistige und mordlüsterne Feenwesen sind da noch das harmloseste, Trolle und Dämonen machen ihnen zu schaffen und in diesem zehnten Band der Reihe müssen sie es mit einem ganz neuen Wesen aufnehmen. All diese Legenden gibt es tatsächlich, die Legenden existierten, bevor Patricia Briggs sich an den Schreibtisch setzte.
Wie findet ihr es, wenn Autoren sich an solchen Mythen, Legenden oder auch Märchen bedienen und ihre ganz eigenen Geschichten drum herum spinnen?
Ich bin gespannt auf eure Gedanken zu diesem Thema und freue mich auf eure Kommentare!
© Henrike Renken für WatchedStuff - Februar 2018