Rezension: Stefanie Kremser – Der Tag, an dem ich fliegen lernte (KiWi, 2014)

Von Vigoleis01

In ihrem dritten Roman “Der Tag, an dem ich fliegen lernte” webt die in Brasilien aufgewachsene deutsche Autorin Stefanie Kremser (*1967) die Geschichten des mutterlosen Mädchens Luisa und des von einem Ozean getrennten Dorfes Hinterdingen zu einem fesselnden Erzählteppich, der interessante Perspektiven auf die Themen Migration, Familie und Identität wirft.

Titel: Der Tag, an dem ich fliegen lernte
Autorin: Stefanie Kremser
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-04705-9
Umfang: 304 Seiten, gebunden m. Schutzumschlag

Luisa, die Ich-Erzählerin, die retrospektiv Ereignisse ihrer Kindheit nacherzählt und -empfindet, wird am 7.9.1994 in München geboren. Nur Minuten nach der Geburt lässt ihre Mutter, die brasilianische Doktorandin Aza, sie vom Balkon des Krankenhauses fallen und verschwindet spurlos. Der Brite Fergus, der die Szene zufällig beobachtet, fängt das Neugeborene und wird zum Lebensretter. Luisas Vater Paul, fünf Jahre jünger als Aza und selbst noch Student, nimmt sowohl seine Tochter wie auch deren Schutzengel mit in seine Wohngemeinschaft, wo sie mit dem Comiczeichner Max und der verschwiegenen und verschwörerischen Irene ein chaotisches WG-Leben führen.

In diesem ärmlichen, ungeordneten und selten jugendfreien, dafür aber umso herzlicheren Umfeld wächst Luisa auf, nicht wissend, was ihre Mutter, die vermutlich wieder in ihre Heimat zurückgekehrt ist, ihr angetan hat.  Mit den Jahren aber drängen sich ihr immer mehr Fragen auf, die nach Antworten verlangen.

“(…) ich lernte, dass Liebe, ganz wie der Sinn des Lebens, ein ebenso ernstes und schmerzvolles Thema war wie Verlassenheit, ja, dass man lieben konnte, obwohl man verlassen worden war – und verlassen konnte, obwohl man liebte.”

Die Gewissheit, verlassen worden zu sein, und die Schlüsse, die Luisa daraus zieht, reichen nicht aus, um die Ungewissheiten zu vertreiben. Weshalb hat Aza sie bei der Geburt nicht nur verlassen, sondern vielleicht gar töten wollen? Und wo ist die unerreichbare Mutter?

Im bayrischen Dorf Hinterdingen, dem Aza Besuche abgestattet hatte, nehmen Vater und Tochter die Spurensuche auf. Im Gespräch mit den Dorfbewohnern, insbesondere der alten Anna Stangassinger, die einer der zwei dominanten Familien des Dorfes angehört, erfahren sie eine weitverzweigte amerikanisch-europäische Geschichte, die im Jahre 1893 ihren Lauf nahm. Dreiundsiebzig Hinterdingener liessen alles zurück und zogen aus, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Ein Teil von ihnen erreichte letztlich, am Ende einer dramatischen Odyssee, den brasilianischen Dschungel und erbaute dort die Ortschaft Atrás das Coisas (portugiesisch für Hinter den Dingen), eine Kopie der bayrischen Heimatgemeinde. In diesem Dorf wurde Aza geboren: sie ist eine Nachfahrin der Auswanderer, die sich inzwischen mit der indigenen Bevölkerung vermischt haben.

Mit all den Hinterdingener Geschichten, einer Adresse und der Aussicht auf ein neues Leben im Gepäck reisen Paul und Luisa nach Sao Paulo, wo ihre ganz eigene Odyssee beginnt…

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Nachdem sie zuletzt einen Kriminalroman (“Die toten Gassen von Barcelona”, 2011) und mehrere Arbeiten für den Münchener Tatort gemacht hat, kehrt Stefanie Kremser mit ihrem dritten Roman zum Grundthema des Debüts (“Postkarte aus Copacabana”, 2000) zurück: “Der Tag, an dem ich fliegen lernte” ist eine Geschichte zwischen europäischer und südamerikanischer Kultur, eine Geschichte über Migration, Wünsche, Möglichkeiten und Perspektiven des Aussteigens – mitten hinein in ein neues Leben. Der Idee für das brasilianische Hinterdingen liegt die Geschichte des peruanischen Dorfes Pozuzo zugrunde, das 1859 von Rheinländern, Tirolern und Bayern gegründet wurde: eine Insel der deutschen Sprache im Herzen Südamerikas.

Stefanie Kremser sagt, die Geschichte speise sich durchaus auch aus persönlichen Erinnerungen, sei aber “keineswegs eine autobiografische Geschichte”. Auf jeden Fall aber weiss sie, wovon sie spricht: Tochter einer deutschen Mutter und eines bolivianischen Vaters, zog sie im Alter von sieben Jahren von Deutschland nach Brasilien. Mit 20 kehrte sie (vorerst) zurück, um zu studieren. Heute lebt sie in Barcelona und Frankfurt. Es mögen auch diese persönlichen Erfahrungen mit der Migration sein, die “Der Tag, an dem ich fliegen lernte” so authentisch wirken lassen.

Des Weiteren wirft das Buch spannende Streiflichter auf eine unkonventionelle Familiensituation, bei der sich die Rollen von Mutter und Vater, wie sie generell definiert werden, bisweilen  gänzlich aufzulösen scheinen. Ausserordentlich ist hier die Figur Luisa, die der entsetzlichen Tat ihrer Mutter mit mehr Neugierde denn Wut begegnet. Mit erstaunlicher Gelassenheit empfindet sie, rückblickend erzählend, den Wurf vom Balkon nicht als Verbrechen, sondern als Befreiung. Ihrem persönlichen Glück stand ,trotz einer Menge ungünstiger Vorzeichen, nichts im Wege.