Der Aargauer Schriftsteller Silvio Blatter nähert sich in seinem neuen Roman “Wir zählen unsere Tage nicht” der komplexen Dynamik einer Familie an. Tiefgreifende Veränderungen kündigen sich in den Leben der älteren Eheleute Isa und Severin Lerch sowie ihrer erwachsenen Kinder Matthias und Sandra an, existenzielle Fragen drängen sich auf. Soll man seine Tage zählen – oder doch lieber nutzen?
Isa Lerch, eine prominente Radiomoderatorin mit wachsendem Alkoholproblem, selbstgefällig, ausgestattet mit einer professionellen Neugier, Angehörige eines konsumorientierten intellektuellen Mainstreams, steht kurz vor der Pensionierung. Ihr Mann Severin ist ein belesener, leicht überheblicher Bildhauer. Er fräst mit einer Kettensäge grobe Skulpturen aus Holz, sein Arbeitsort ist eine abgelegene Kiesgrube, die plötzlich von einem skrupellosen Paintball-Club mitgenutzt wird und bald zugeschüttet werden soll.
Isa und Severin, beide etwas über sechzig, sind “kein symbiotisches Paar”, jeder verfolgt seine eigenen Interessen, “es war keine Seltenheit, dass sie ein paar Tage nichts voneinander hörten”. Dennoch scheint ihre Liebe (oder ist es Respekt? Vertrauen?) gefestigt, die anstehenden Zeiten der Veränderung verunsichern jedoch beide. Ein drastischer Wandel des Lebensstils droht – werden sie ihre Interessen miteinander vereinen können?
Isa und Severin haben zwei Kinder, beide um die vierzig Jahre. Sandra ist eine “Familienfrau”, verheiratet mit dem ambitionierten grünliberalen Politiker Rainer, Mutter eines achtjährigen Sohnes. Es heisst: “unglückliche Familie verstörten sie”, sie “belächelte Höhenflüge und Hirngespinste”. Da erscheint es dramaturgisch nur konsequent, dass gerade ihre Ehe vor einer harten Prüfung steht und auch sie Lust auf den einen oder anderen Ausbruch aus dem Alltag bekommt… Auch Sohn Matthias, Leiter von Seminaren zur Lebens- und Führungsoptimierung, erfährt in Liebesdingen Turbulenzen. Er ist geschieden, seine Tochter Lucie lebt bei der Ex-Frau, er hat ein Auge auf die kosovarische Kellnerin Elmira geworfen, womit er sich jedoch bei deren Familienclan unbeliebt macht…
Silvio Blatter nähert sich aus allen vier Perspektiven den Figuren an, zeigt keine Präferenzen, wahrt zu allen dieselbe Distanz. Die unterschiedlichen Konflikte, die die Familienmitglieder untereinander oder mit anderen haben werden in präziser, gelassener Sprache ausgelotet. Das Aufeinanderprallen des spiessbürgerisch-nüchternen Rainer mit Severin, dessen Ignoranz und das “kindische Gebaren” des Künstlers er verabscheut, ist spannend ohne dass es je zum offenen Ausleben der Abneigung kommt. Der stille Konflikt, den Mutter Isa und Tochter Isa austragen wenn sie bei ihren Treffen im Hallenbad alle kritischen Themen umschiffen, explodiert ebenfalls nie. Obschon die Tochter der Mutter insgeheim vorwirft, sie interessiere sich für Probleme nur “wenn sie in ein Format passten, wenn man im Radio darüber sprechen konnte bis zum Schlusswort: Lassen wir das so stehen.”
Geht das alles zu reibungslos vonstatten? Silvio Blatter, der sich im Laufe seiner langen schriftstellerischen Laufbahn schon öfters mit Spannungen in Eltern-Kind-Verhältnissen beschäftigt hat, lässt seine Figuren nicht an den Klippen von Streit und Rachsucht zerschellen. Wohl begegnet einem im Laufe der Geschichte manch ein gescheitertes Lebensprojekt, insgesamt aber lenken letztlich alle Beteiligten ihre Geschicke in versöhnliche, nur manchmal leicht wehmütige Bahnen. “Wir zählen unsere Tage nicht” ist keine klassische Zerfallsgeschichte, in der ein auf den ersten Blick makelloses Familienportrait nach und nach mit feinen Rissen überzogen wird, bis alles in sich zusammenfällt. Vielmehr werden hier auch die Dinge in den Fokus gerückt, die das Gefüge allen Rissen zum Trotz noch zusammenzuhalten vermögen. Es wird gezeigt, dass wenn man gewisse Konflikte als etwas selbstverständlich Familiäres akzeptiert, sich nicht darin verbeisst, der Blick nach vorne wesentlich leichter fällt.
Silvio Blatter (*1946) hat mit Severin und Isa Lerch zwei Figuren geschaffen – ungefähr der Generation des Autors selbst entstammend -, deren couragierte Lebensentscheidung beeindruckt. In einem Alter, in dem viele – und gerade die eigenen Kinder – ein baldiges Zurücktreten in die zweite Reihe vermutet hätten, entschliessen sich Severin und Isa noch einmal etwas Neues zu beginnen, ihre Tage nicht mehr angstvoll zu zählen, sondern sie zu nutzen.
Blatter, Silvio. Wir zählen unsere Tage nicht. München: Piper 2015. 304 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-492-05645-8