|Rezension| Saša Stanišić - Herkunft

Von Maren Appeldorn @Marenliest

Saša Stanišić | Luchterhand | Hardcover | 22,00€ | 368 Seiten | 18.03.2019 | ISBN: 978-3-630-87473-9


In schrieb der Ausländerbehörde: Ich bin Jugo und habe in Deutschland trotzdem nie was geklaut, außer ein paar Bücher auf der Frankfurter Buchmesse. Und in Heidelberg bin ich mal mit einem Kanu in einem Freibad gefahren. – S. 10

HERKUNFT ist ein Buch über den ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt.
HERKUNFT ist ein Buch über meine Heimaten, in der Erinnerung und der Erfindung. Ein Buch über Sprache, Schwarzarbeit, die Stafette der Jugend und viele Sommer. Den Sommer, als mein Großvater meiner Großmutter beim Tanzen derart auf den Fuß trat, dass ich beinahe nie geboren worden wäre. Den Sommer, als ich fast ertrank. Den Sommer, in dem Angela Merkel die Grenzen öffnen ließ und der dem Sommer ähnlich war, als ich über viele Grenzen nach Deutschland floh.
HERKUNFT ist ein Abschied von meiner dementen Großmutter. Während ich Erinnerungen sammle, verliert sie ihre. HERKUNFT ist traurig, weil Herkunft für mich zu tun hat mit dem, das nicht mehr zu haben ist.
In HERKUNFT sprechen die Toten und die Schlangen, und meine Großtante Zagorka macht sich in die Sowjetunion auf, um Kosmonautin zu werden. 
Diese sind auch HERKUNFT: ein Flößer, ein Bremser, eine Marxismus-Professorin, die Marx vergessen hat. Ein bosnischer Polizist, der gern bestochen werden möchte. Ein Wehrmachtssoldat, der Milch mag. Eine Grundschule für drei Schüler. Ein Nationalismus. Ein Yugo. Ein Tito. Ein Eichendorff. Ein Saša Stanišić. (Luchterhand)

Das literarische Quartett hatte mich auf das neue Buch von Saša Stanišić aufmerksam gemacht und als „Herkunft“ auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019 stand, war meine Neugierde gänzlich da. Mittlerweile steht dieses sehr persönliche Buch des Autors auf der Shortlist. Am 14.10.2019 wird der Gewinner bekanntgegeben und das Zittern hat ein endlich ein Ende.

Die Geschichte begann mit dem Schwinden von Erinnerungen und mit einem bald verschwundenen Dorf.

Sie begann in Gegenwart der Toten: Am Grab meiner Urgroßeltern trank ich Schnaps und aß Ananas. – S. 30

In „Herkunft“ erzählt der Autor Saša Stanišić auf einer humorvollen, aber auch ergreifenden Art und Weise, wie er zu dem Begriff „Herkunft“ steht. Ist Herkunft ein Ort? Eine Person? Ein Gefühl? Eine Erinnerung? Ein Gegenstand? Dabei verweist er sowohl auf Passagen aus seiner Jugend, stellt seine Verwandtschaft vor und philosophiert über die Bedeutung von Herkunft. Seine Schilderungen sind deshalb so interessant, weil Sašas Familie - im Gegensatz zu meiner - einen langen, oft beschwerlichen Weg der Flucht und Auswanderung hinter sich hat.

Erst als Saša mit 30 Jahren für die Einwanderungsbehörde ein Formular ausfüllen muss, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen, wird das Thema Herkunft ein für ihn relevanter Begriff. Der einzureichende Lebenslauf stimmt Saša nachdenklich: Wie soll er seine Heimat und Herkunft benennen? Im Verlauf des Buches nehmen wir als Leser an seinen Gedankengängen teil. Saša wuchs in einem Land auf, das es heute nicht mehr gibt: Jugoslawien. In Višegrad geboren, mit seinen Kindern in Hamburg ein trautes Heim geschaffen. Die Antwort auf die Frage ist verzwickt und nicht leicht zu beantworten.

Neben der Schilderung über die eigene Kindheit, Schulzeit, den Status als Flüchtling, geht er zentral auf seine Großmutter ein, die an Demenz erkrankt ist und eine enge Beziehung zu ihm pflegt. Er schreibt über Familie und Heimat, über die Vergangenheit und Gegenwart. Wie war es früher in Jugoslawien? Warum ist seine Familie im Bosnienkrieg geflüchtet? Wer gehört überhaupt zur Familie? Wie ergeht es Saša in Deutschland?

Wir tragen Häkchen im Namen. Jemand, der mich gern hatte, nannte meine mal „Schmuck“.Ich empfand sie in Deutschland oft eher als Hindernis. – S. 61Der Schreibstil von Saša Stanišić würde ich als außergewöhnlich und ungewohnt beschreiben. Teilweise schildert er sein Leben in kurzen, präzisen, einfachen Sätzen. Diese werden dann abgelöst von langen, nachdenklichen und poetischen Reihen. Eine interessante Mischung, die zunächst sehr ungewohnt ist und mich oft stolpern lassen haben. Zudem behandelt der Autor in jedem Kapitel, die sehr kurz gehalten werden, eine prägende Situation oder eine Person in der Familie und springt gerne mal von Familienmitglied zu Familienmitglied, von Ort zu Ort, bis ich das Gefühl hatte, ihm nicht mehr folgen zu können. Die Zeitsprünge haben mir die meisten Probleme bereitet. Eine Jahreszahl folgt willkürlich nach der anderen. Schnelle Gedankengänge in kurzen Kapiteln – rasant und nüchtern. Neben den vielen beschreibenden Momenten, versieht er dem Buch auch eine humorvolle Note, die mir sehr gut gefallen hat. Pfiffige, originelle, freche Kommentare oder amüsante Metaphern. Darunter gibt es viele emotionale Szenen mit seiner Großmutter ehrlich, verletzlich und authentisch.


Es ist der 7. März 2018 in Višegrad, Bosnien und Herzegowina.Großmutter ist siebenundachtzig Jahre alt und elf Jahre alt. – S. 5
Vielen Dank für das Rezensionsexemplar Luchterhand.
Rezensionsexemplare beeinflussen nicht meine subjektive Meinung.
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