|Rezension| "Rotkäppchen muss weinen" von Beate Teresa Hanika

| FJB | Taschenbuch | 221 Seiten | €6,95 | Amazon |


Es passierte an einem Freitagnachmittag.
Er nennt sie Rotkäppchen, als er sie mit einem Korb am Fahrradlenker den Berg hinabfahren sieht. Rotkäppchen – weil in dem Korb Wein und Essen sind für den Großvater, dessen Einsamkeit nur ein Vorwand ist. Rotkäppchen – weil der Weg aus dem Wald dunkel und steinig ist. Rotkäppchen – weil der Wolf sie längst in seiner Gewalt hat … [via Amazon]
Es gibt Bücher, die unscheinbar und klein wirken und dabei doch etwas so bedrohliches ausstrahlen, dass man Angst hat, sie aufzuschlagen. Ich muss gestehen, dass Rotkäppchen muss weinen immer eines dieser Bücher war. Wenn man erst einmal weiß, worum es in einem Buch geht und weiß, dass dieses Thema sicherlich einiges von einem abverlangt, können selbst knapp zweihundert Seiten wie ein unheimlich dickes und unnahbares Buch wirken und vielleicht habe ich es deswegen nie angerührt. Vielleicht hätte ich es auch nicht angerührt, wenn ich gewusst hätte, wie melancholisch und bedrückend die Geschichte tatsächlich auch ist, aber gleichzeitig bin ich doch froh, es gelesen zu haben - eine widersprüchliche Beziehung ist das und sie ist schwer zu erklären. Schließlich finde ich dieses Buch ganz grausam und schrecklich - inhaltlich, thematisch. Aber gleichzeitig ist es auch ein unheimlich eindringliches Buch, das neben all seinen Grausamkeiten auch Wärme und Geborgenheit bereithalten kann.
Ein Buch über Kindesmissbrauch ist schwer. Gerade, wenn es ein Jugendbuch ist. Ab welchem Alter soll man Kinder und/oder Jugendliche mit diesem heiklen Thema konfrontieren - und vor allen Dingen wie? Beate Teresa Hanika hat es mit diesem Buch meiner Meinung nach genau richtig gemacht, denn sie spricht das Thema so einfühlsam und poetisch an, dass es nie zu direkt wird, aber doch immer genau so viel preisgibt, dass man genau weiß, was geschieht. Wie es auf dem Buch schon so schön heißt: klar, präzise und poetisch. Und dabei trotzdem sanft. Manchmal ist die Geschichte, als würde eine Hand das Leserherz zerdrücken und dann wieder ist sie so voller Freundschaft und warmer Gefühle, dass man am liebsten all das schreckliche, das diese Welt zu bieten hat, ausblenden würde.

Die Geschichte um Protagonistin Malvina ist in einen sehr interessanten Schreibstil umhüllt, an den man sich erst gewöhnen muss. Es gibt keine direkte Rede in dem Sinne, dass es Anführungsstriche geben würde - alles ist in einem Fließtext geschrieben, sodass man doch manchmal etwas verwirrt ist, wer und ob denn gerade gesprochen wird, aber diese faszinierende Art macht das Buch noch viel eindrücklicher. Malvina ist ein unverstandenes Mädchen, das von ihrer Familie nicht ernst genommen wird und das sich in ihrer Welt - bestimmt von ungesagten Worten und Geheimnissen, die keine sein dürften - unsicher ist. Sie hat, außer ihrer besten Freundin, keine Bezugsperson, die ihr wirklich zuhört und für sie da ist und diese Situation macht nicht nur sie fertig. Auch der Leser erträgt es irgendwann kaum noch, wie wenig sich ihre eigenen Eltern für sie interessieren, für sie einsetzen und wie sie ihre Worte und Gedanken ignorieren. So tieftraurig einige Szenen und Situationen auch sind, die Beziehung zu ihrer besten Freundin Lizzy, die einfach unglaublich schön und warmherzig ist, bringt immer wieder Licht ins Dunkel - ebenso wie die sich entwickelnde sanfte Zuneigung zu dem Jungen Klatsche.
Es ist wirklich faszinierend, wie viel in einem so kleinen Büchlein tatsächlich stecken kann. Rotkäppchen muss weinen ist voll mit Themen, die man in der Realität selten gerne sieht - familiäre Probleme, Kindesmissbrauch, Einsamkeit. Und all diese Handlungsstränge werden geschickt ins Geschehen eingewebt und ergeben im Gesamtbild ein großes Mosaik, das von dem Mut eines jungen Mädchens erzählt, von Wahrheit und Lügen. Ein Buch, dass thematisch sicherlich nur schwer zu ertragen ist, das aber auch ebenso viel Licht und Wärme übrig hat. Rotkäppchen muss weinen ist ein besonderes Buch mit einer besonderen Geschichte und einer besonderen Protagonistin. Einzig das Ende hätte für mich gerne ausführlich ausfallen können, auch wenn es sehr schön und einfühlsam war.
Rotkäppchen muss weinen - und Marie gleich mit. Beate Teresa Hanika hat mit diesem Buch ein Licht- und Schattenspiel erschaffen, das ein Tabuthema anspricht und einfühlsam wie eindringlich behandelt. Mit authentischen und schwierigen Figuren, einigen Schattenmomenten, die dem Leser das Herz zerdrücken, aber auch ebenso viel Wärme und Licht erzählt Hanika von Missbrauch, Freundschaft, Familie und einer zarten Liebe. Viel Gehalt für ein so dünnes Buch - aber es funktioniert. Stark, poetisch und mit viel Mut - ein Buch, das man unbedingt lesen sollte!

Beate Teresa Hanika, geboren 1976 in Regensburg, ist Fotografin. Ab 1997 arbeitete sie mehrere Jahre als Model in verschiedenen europäischen Städten. Bereits seit ihrem zehnten Lebensjahr schreibt sie Geschichten und Gedichte. Sie lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Ort in der Nähe von Regensburg. Ihr erster Roman ›Rotkäppchen muss weinen‹ wurde u.a. mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis 2007 und dem Bayerischen Kunstförderpreis 2009 ausgezeichnet und für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2010 nominiert. [via Fischer]
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