In seinem umfangreichen, mit dem Prix Goncourt geehrten Roman “Wir sehen uns dort oben” erzählt der französische Autor Pierre Lemaitre von den Nachwehen des Ersten Weltkriegs, vom Schelmenstück zweier ehemaliger Soldaten und der Machtgier eines skrupellosen Hauptmanns. Ein Meisterwerk.
Joseph Merlin ist ein ungeliebter, erfolgloser, übelriechender Staatsbeamte, der kurz vor der Pensionierung steht. Es heisst: “Sein ganzes Dasein war eine einzige Folge von Enttäuschungen, an die er sich nicht gewöhnen konnte.” Nur wenige der 520 Seiten von “Wir sehen uns dort oben” beschäftigen sich mit dieser nach dem Vorbild des Cripure aus Louis Guilloux’ “Le sang noir” geformten Figur, die trotzdem den heimlichen Dreh- und Angelpunkt der Geschichte bildet. Der Held im Kostüm des Antihelden, unsympathisch und abstossend, doch mit seinen Taten das Gute erwirkend. Er ist der belanglose Niemand in einer Gesellschaft, die sich nur noch um Helden, lebend oder tot, kümmert. Der Krieg hatte sich nicht um erfolglose Beamte geschert, in seinen Nachwehen blieben einzig “die Gedenkfeiern, die Toten, der Ruhm. Das Vaterland.” Gefallene Soldaten und siegreiche Rückkehrer bilden das Rückgrat dieser Geschichte…
“Als Letzter zu sterben, sagte sich Albert, ist, wie als Erster zu sterben: vollkommen idiotisch.”
Die Geschichte beginnt noch auf dem Felde, im November 1918. Der Waffenstillstand ist bereits besiegelt, die letzten Gefechte scheinen gefochten. Der machthungrige, skrupellose Leutnant Henri D’Aulnay-Pradelle jedoch sieht die Chance auf ein letztes Blutbad gekommen, “ungestüm und primitiv” zwingt er seine Truppen durch einen hinterlistigen Trick noch einmal aus den Schützengräben zu steigen und zu kämpfen. Pradelle ist der Nachkomme eines gefallenen Adelsgeschlechts: um seinem Namen wieder zu Ehre zu verhelfen ist er bereit, alles zu opfern. Einer seiner Soldaten, Albert Maillard, durchschaut Pradelles Hinterlist. Der Leutnant versucht Albert im Getümmel des Gefechts zu beseitigen, was jedoch daran scheitert, dass ein zweiter Soldat, Edouard Péricourt, Albert das Leben rettet. Dies freilich zu einem hohen Preis: Nach der Rettungsaktion wird Edouard von einem Granatsplitter getroffen, der ihm das halbe Gesicht zerfetzt. Dann ist der Krieg vorbei.
Albert verhilft Edouard, der sich weigert in sein wohlhabendes Pariser Elternhaus zurückzukehren, zu einer neuen Identität. Pradelle durchschaut den Betrug, verspricht jedoch zu schweigen, da Albert Informationen gegen ihn in der Hand hat. Während Pradelle Edouards Schwester heiratet, um sich den Einfluss des Vaters zunutze zu machen, leben Albert und der zunehmend drogenabhängige Edouard, der sich geweigert hat, sein Gesicht operieren zu lassen, in Armut bis sie eines Tages einen grossen Betrug mit dem Verkauf von angeblichen Kriegsdenkmälern aufzuziehen beginnen, der ihnen zu Geld für eine Flucht in die Kolonien verhelfen soll. Pradelle seinerseits gehört ebenfalls zu denen, die mit unsauberen Geschäften noch im Jahre 1920 vom Krieg profitieren: Seine Firma kümmert sich um die Begräbnisse der Abertausenden von Kriegsopfern, handelt dabei aber profitgierig und schändet das Gedenken der Toten…
Durch bisweilen ungeheuerliche Kehrtwenden und Wechselfälle des Schicksals bleiben die Geschichten dieser ungleichen Protagonisten eng miteinander verbunden. Die erzählte Zeit, die sich vom November 1918 bis zum Juli 1920 erstreckt, ist angefüllt mit den menschlichen Grabenkämpfen einer von Rachsucht, Machtgier und Heldenkult besessenen Gesellschaft. Kristallklar scheint darin, inmitten all dieser gesellschaftlichen Zersetzungserscheinungen, die Geschichte der Freundschaft zwischen Albert und Edouard. Der schmächtige Buchhalter Albert in seinen abgetragenen Kleidern und sein Schutzengel Edouard mit dem halben Gesicht, der nicht mehr auf die Strasse geht und stets bunte Pappmaché-Masken trägt: In die Geschichte dieses ungleichen Paars legt Lemaitre allle Empathie und Menschlichkeit, es gelingt ihm, dass selbst vor dem Hintergrund des unverschämten Denkmalbetrugs eine grosse Sympathie mit diesen beiden Figuren entsteht. Diese wirkt umso kräftiger wenn sie gegen die Skrupellosigkeit des ekelhaften Pradelle ausgespielt wird.
Pierre Lemaitre (*1951) ist ein erfahrener Autor von Kriminalromanen und versteht es als solcher hervorragend, Spannung zu erzeugen, wovon er auch in “Wir sehen uns dort oben” souveränen Gebrauch macht. Der Roman, eine abenteuerliche Mischung aus Schelmenstück, Gesellschaftsroman, Historie und Krimi, ist dramaturgisch nahezu perfekt inszeniert, vom nüchternen Auftakt bis zum atemlosen Finale stimmen die Rhythmen. “Wir sehen uns dort oben” rührt an die grossen Emotionen und bettet sie ein in eine wundersam intime Geschichte um Freundschaft, Rache, Gier, Freiheitsdrang, Aufrichtigkeit und Heldentum. Ambivalente Charaktere wie der eingangs erwähnte Merlin, halsbrecherische (aber stets nachvollziehbare) Twists, sorgsam als rote Fäden eingewobene Motive und mitfühlende Einsichten in die vom Krieg zerrüttete Gesellschaft machen den Roman zu wahrhaftig grosser Literatur. 2013 ausgezeichnet mit dem renommiertesten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, wird “Wir sehen uns dort oben” diesen Vorschusslorbeeren in jeder Hinsicht gerecht. Kurzum: ein Meisterwerk.