Rezension: Martin Amis – Interessengebiet (Kein & Aber 2015)

Ein Mann verliebt sich in eine Frau: Das ist die älteste, wenngleich spektakulärste Geschichte der Welt. Wir alle kennen sie, haben sie erlebt, gesehen, gelesen. Für viele von uns gehört sie zu den Grundmustern der Weltwahrnehmung. Wenn nun aber der “Mann” ein SS-Obersturmführer Golo Thomsen ist, und die “Frau” eine Hannah Doll, Ehegattin des Lagerkommandanten von Auschwitz-Birkenau, so verändern sich auf einmal die Vorzeichen. Kann eine Liebesgeschichte unter Nazis noch eine Liebesgeschichte sein?

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Martin Amis (*1949), vieldiskutierter britischer Autor, Satiriker und Provokateur, kehrt mit seinem vierzehnten Roman “Interessengebiet” zum Thema des Nationalsozialismus zurück, das er bereits im hochgelobten “Pfeil der Zeit” (1991) behandelt hatte. Schon in diesem innovativ strukturierten Roman, der das Leben des KZ-Arztes Odilo Unverdorben rückwärts erzählt, hatte Amis’ Erzähler eine Art Täterperspektive eingenommen. Diese wird auch im neuesten Werk aufgegriffen.

Drei Figuren erzählen abwechslungsweise: Auf der ersten Seite bereits verliebt sich Erzähler Nummer 1, SS-Obersturmführer Angelus “Golo” Thomsen in Hannah, die Frau des Auschwitzer Lagerkommandanten Paul Doll. Thomsen ist ein Schreibtischtäter, der mit der Herstellung von synthetischem Kautschuk in den sogenannten Buna-Werken betraut ist. Was die nationalsozialistische Ideologie betrifft, ist er ein klassischer Mitläufer, ein Opportunist; physisch hingegen ist er ein waschechter Arier, das Haar “frostig weiss”, mit “arktischen Augen” und “Schenkel massiv wie Schiffsmasten”; zudem ist er als Neffe des engen Hitler-Vertrauten Martin Bormann näher mit dem Kreis der wirklich Mächtigen vertraut als seine direkten Vorgesetzten. Sein eigentliches Interesse aber gilt den Frauen, bevorzugt verheirateten, die er gleich reihenweise verführt.

Das Ziel, das er sich mit Hannah Doll aber gesteckt hat, ist lebensgefährlich. Ihr Gatte – Lagerkommandant Paul Doll, der zweite Erzähler des Romans – ist ein sadistischer, menschenverachtender Alkoholiker und Selbstdarsteller, von Häftlingen gefürchtet, von Thomsen und Konsorten als alter Fettsack verlacht. Es sind die von Doll erzählten Szenen, in denen Amis’ schriftstellerisches Können richtig aufblüht. Diese überspitzt grotesken Narrationen eines verblendeten, von jeder Logik befreiten Vollblutnazis, eifersüchtig und gewalttätig, sexuell verstört und überzeugt, seinen gewichtigen Teil zur Endlösung beizutragen. Geformt nach den realen Vorbildern Rudolf Höss und Kurt Franz, dessen Spitzname “Puppe” (engl. doll) war, ist der Lagerkommandant eine Figur von erschütternder Grausamkeit. In ihrer komischen Überspitzung hat sie bisweilen auch Ähnlichkeiten mit Quentin Tarantinos Figur des Hans Landa aus “Inglorious Basterds”.

Die dritte Erzählstimme markiert einen Gegenpol zur makaberen Komik des Paul Doll: Sonderkommandoführer Szmul ist der dienstälteste – eine groteske Bezeichnung bei der kurzen durchschnittlichen Lebensdauer im KZ – Arbeitsjude in Auschwitz. Er führt eine Einheit, die die Vergasungen vorbereiten, anschliessend die toten Körper nach Schmuck und Gold plündern und ihre Leichen verbrennen muss. Ein Schicksalloser auf der Suche nach letzten Überresten menschlicher Gemeinschaft, sagt er: “ich glaube, selbst wenn jeder Tag, jede Stunde, jede Minute der Menschheitsgeschichte bekannt wäre, würde man für unser Tun kein Exempel, kein Vorbild, nichts Vergleichbares finden.”

Auf diesem Dreiklang, zeitlich im August 1942 einsetzend, baut Martin Amis sein Kammerspiel des Schreckens auf. Machtspiele, Intrigen, Verblendung und Dekadenz gehen Hand in Hand in einem Roman, der mal wie ein lustvoller Salonroman anmutet, mal wie eine bissige Satire, mal wie leichtfüssige Semipornografie, mal wie eisiger Realismus. Diese Unentschlossenheit könnte dem Text als Mangel angelastet werden, sie scheint mir jedoch durch die Polyphonie verschiedener Erzählstimmen hinreichend gerechtfertigt. Einzig die Erotisierung des Nazi-Stoffes – auf die Susan Sontag schon 1975 hingewiesen hat – wirkt stellenweise etwas übertrieben, driftet zu sehr ins Klischeehafte ab, etwa in der Figur der brutalen, mit leicht lesbischen Zügen ausgestatteten Nazischergin Ilse Grese.

Der Roman in der Originalausgabe erhielt von der englischsprachigen Presse zumeist sehr positive Rezensionen, während die deutschsprachigen Medien teils wesentlich kritischer waren. Ein Grund dafür könnte in der Übersetzung liegen, die zwar kenntnisreich ausgeführt ist und den Tonfall des Originals meist gut trifft, jedoch ist die englischsprachige Urfassung in einem mit deutschen Vokabeln durchsetzten Nazisprech verfasst, der das grotesk-komische Element um ein Vielfaches verstärkt.  Ein Beispiel:

“If what we’re doing is good, why does it smell so lancingly bad? On the ramp at night, why do we feel the ungainsayable need to get so brutishly drunk? Why did we make the meadow churn and spit? The flies as fat as blackberries, the vermin, the diseases, ach, scheusslich, schmierig—why? Why do rats fetch 5 bread rations per cob? Why did the lunatics, and only the lunatics, seem to like it here? Why, here, do conception and gestation promise not new life but certain death for both woman and child? Ach, why all der Dreck, der Sumpf, der Schleim? Why do we turn the snow brown? Why do we do that? Make the snow look like the shit of angels. Why do we do that?”

Insgesamt ist Martin Amis mit “Interessengebiet” ein Buch gelungen, das der Diskussion um Auschwitz zwar keine bahnbrechend neuen Aspekte hinzufügt, jedoch stilistisch hervorragend ausgeführt ist und eine immense historische Recherche zu einem spannend-unterhaltend-empörenden Roman mit bemerkenswerten Charakteren verdichtet.

Amis, Martin. Interessengebiet. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Zürich: Kein und Aber. 416 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-0369-5724-1. 32.50 CHF

Amis, Martin. The Zone of Interest. London: Jonathan Cape 2014. 320 S., gebunden m. Schutzumschlag. 9780224099745.


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