|Rezension| "Linna singt" von Bettina Belitz




Waren die immer hier?
Seit fünf Jahren hat Linna sie nicht mehr gesehen, die Mitglieder ihrer Band "Linna singt": Maggie, Jules, Simon und Falk, nachdem Linna diese in einer Kurzschlussreaktion auflöste. Nun, nach diesen fünf Jahren, treffen sich die Freunde in einer Hütte in den Bergen um für einen Auftritt zu proben, was von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist, denn Lina hat seit der Bandauflösung keinen Ton mehr gesungen. Nur Falk, mit dem sie einst eine Nacht verbrachte, hat sie dazu bewegt, sich der Gruppe anzuschließen - gibt es doch so viel Ungesagtes. Was harmlos beginnt, artet schon bald in ein abgekatertes Psychospiel aus, bei dem Linna immer mehr als Lügnerin darsteht. Schon bald weiß sie Freund nicht mehr von Feind zu unterscheiden in der eingeschneiten Hütte, fernab von jeglicher Zivilisation. Grausame Botschaften an den Wänden, Augen, die alles zu sehen scheinen und Geheimnisse, die ans Licht kommen müssen und so muss jeder der Freunde zu sich selbst finden und die Erinnerungen an Vergangenes zulassen...
Bettina Belitz' Schreibstil ist ruhig wie eindringlich, poetisch wie klarlinig und düster wie taghell. Er ist eine niveauvolle Mischung aus vielen Attributen, die für einen flüssigen und gleichzeitig sehr anspruchsvollen Stil sorgen, der eine düstere und dichte Spannung aufzubauen weiß, die sich subtil durch daas gesamte Buch schlängelt und selbst gegen Ende kaum abnimmt. Ein Hauch Melancholie hier, menschliche Abgründe da und das alles verpackt in einen wunderschön lesbaren Schreibstil, der jegliche Gefühle und Momente unglaublich gut einzufangen weiß. Es ist gerade die Art zu Schreiben, die diesem Buch so viel Atmosphäre verleiht, die so viele schimmernde Facetten einzufangen weiß.
Ein Psychothriller ohne Thriller, ein Charakterroman mit einer der unsympathischsten Hauptfiguren, die mir seit Langem über dem Weg gelaufen ist - so könnte man "Linna singt" platt zusammenfassen und doch ist dieser Roman mehr, als nur wieder ein belangloses Jugendbuch unter vielen mit dem  immergleichen Grundgerüst, das man beinahe schon im Schlaf runterbeten könnte. Ein düsteres, nervenaufreibendes und subtiles Mehr, das sich von hinten anschleicht, um dann doch von vorne anzugreifen. Ein Mehr voller Fragen und Widersprüche, ja, ein Psychospiel der Extraklasse, das den Leser in ein undurchdringliches Netz aus Intrigen, Verrat und Paranoia steckt, ihn dann dreimal umdreht, um ihn im Dunkeln stehen zu lassen - orientierungslos und ängtslich.Wie Frau Belitz mir einem Roman schmackhaft machen konnte, mit dessen Protagonistin ich teilweise absolut nichts anfangen konnte? Das versuche ich im Folgenden zu erklären!
Denn es ist nicht nur die Protagonistin, an die man sich hier gewöhnen muss, es ist beinahe jede einzelne Figur, so eigenständig und plastisch sie auch sein mögen - schwierig sind sie doch alle. Jede Figur hat von Anfang an sein Päckchen zu tragen und so wiegt der fünfhundert seitenlange Roman manchmal doppelt so schwer in meinen Händen. Neben unrealistischen und zeitweise doch so verständlichen Reaktionen jeder einzelnen Figur, bietet "Linna singt" vor allen Dingen eins: eine subtile Spannung, die Belitz gekonnt und so rar ins Geschehen einwebt, das man teilweise kaum merkt, wie sich das Netz aus Geheimnissen langsam enger um den Leser zieht, sich bereits um den Hals geschlungen hat. Es ist ein verqueres Psychospiel, dem man kaum entrinnen kann und das nach einem langsamen Start schließlich derart eskaliert, dass man jedem Einzelnen misstraut und ständig so gefangen von dem eigenen Rätselraten um den Täter ist, dass man ganz abgelenkt vom wahren "Bösewicht" ist (und ich hatte tatsächlich wildeste Theorien, die ich immer weiter ausbaute!). Die Situation der Freunde tut dann sein Letztes: eine eingeschneite Hütte mit der lauernden Gefahr leerer Handyakkus und Lawinen - Gänsehaut pur!

Normalerweise mag ich Romane nicht, in denen ich wenig bis gar nichts mit der Hauptfigur anzufangen weiß, ja, zeitweise (wie in diesem Fall) sogar Antipathie empfinde, doch gleichzeitig muss ich diese Tatsache hier irgendwie anerkennen und loben, denn das Linna eine ziemlich anstrengende Protagonistin ist, ist gleichermaßen Fluch und Segen. Ist sie doch in ihrer Härte so zerbrechlich und in ihrer Andersartigkeit ein Paradebeispiel dafür, dass Jugendbücher auch Figuren jenseits erschaffen können, die nicht wie Bella Swan sind. Doch es ist nicht alles Gold was glänzt und so kann sicherlich nicht jeder etwas mit der äußerlich so perfekten Linna anfangen, die entgegen ihrer eigenen Behauptungen definitiv ein "Supergirl" ist. Hier wäre weniger sicherlich mehr gewesen, denn Linna kann irgendwie wirklich alles: Mike Oldfield beim Vornamen nennen, Boxen, Singen, Zeichnen... und für all das möchte sie noch nicht einmal die verdiente Aufmerksamkeit. Für ein Mädchen, das diese Aufmerksamkeit nicht einmal von ihrer eigenen Mutter erhalten hat, ist das schon relativ ungewöhnlich, teils fast schon unrealistisch. Aber irgendwie komme ich auch nicht umhin, sie dafür zu bewundern. Die anderen Figuren bleiben da eher blass, weil man außerhalb ihres persönlichen "Geheimnisses" eher weniger über ihr Leben erfährt und fast alle Eigenschaften haben, mit denen ich ziemlich wenig anfangen konnte.

Trotz dieser Kritik hat mich dieser Roman auf hohem Niveau berühren können und wenn eine Geschichte das trotz eines so relevanten unerfüllten Kriterium schafft, kann man ihm im Grunde genommen nur wenig vorwerfen. Es sind wohl gerade diese im Endeffekt doch so negativen menschlichen Eigenschaften, die das Buch ausmachen. Schließlich ist "Linna singt" zwischen den Zeilen mehr als Linna und das war das, was mich so an die Seiten fesselte, was mich bis spät in die Nacht lesen und was meine Hände schwitzig und meinen Herzschlag schneller werden ließ - die Gedanken und Werte, auch die Musik (und die tolle Playlist), die das Buch so besonders machten. Durch eine kitschlose Liebe erfüllt "Linna singt" auch die obligatorische Liebesbeziehung, die nebenbei erzählt und ganz natürlich in das Geschehen eingewebt wurde - besonders positiv anzumerken ist hierbei, das ganz natürlich mit dem Thema Sex und Körperlichkeiten umgegangen wird - erfrischend, wenn man bereits völlig entnervt von den keuschen amerikanischen Teeniegeschichten ist! Die Auflösung am Ende war im Übrigen weit weniger spektakulär als erhofft, hielt sich aber im Rahmen - auch wenn Linnas Geheimnis bezüglich des Singens ein wenig untergegangen ist.
Linna singt und Marie liest - und bei solchen Büchern weiß ich auch warum, denn trotz Kritik und einiger unrealistischen Schwächen, die man dem Buch nicht abreden kann, ist "Linna singt" ein Psychoroman über Freundschaft, Hass, Neid und dem Leben selbst, der mich aufwühlte und zum Nachdenken anregte. Die schwierigen Figuren sind gleichermaßen Fluch und Segen und brauchen seine Zeit bis man sich an sie gewöhnt hat. Ein Roman, der das Genre Young Adult genauso einsetzt, wie man es sich oft wünschen würde und eine tolle Lektüre für junge Erwachsene darstellt, die keusche amerikanische Teenies leid sind und eine Geschichte auf hohem Niveau lesen wollen, die sich mit den vielen Problemen und Themen des Lebens befasst. Unbedingt lesen!


Bettina Belitz wäre an einem sonnigen Spätsommertag des Jahres 1973 beinahe in einer Heidelberger Bäckerei zur Welt gekommen, ein Umstand, der ihre Leidenschaft für Pflaumenkuchen erklärt. Ihre zweite Leidenschaft ist der Tatsache geschuldet, dass sie zwischen unzähligen Büchern aufwuchs und sich deswegen schon früh in die Magie der Buchstaben verliebte. Lesen alleine genügte ihr bald nicht mehr – nein, es mussten eigene Geschichten aufs Papier fließen. Nach dem Studium arbeitete Bettina Belitz als Journalistin, bis sie ihre (nicht kulinarische) Leidenschaft aus Jugendtagen zum Beruf machte. Heute lebt sie umgeben von Pferden, Schafen, Katzen und Hühnern in einem 400-Seelen-Dorf im Westerwald und lässt sich von der Natur und dem Wetter zu ihren Romanen inspirieren. [via Script5]
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