“Strange Fruit” ist die gekürzte und aktualisierte Fassung des original 2009 erschienenen Sammelbands “Frutos extraños. Crónicas reunidas 2001-2008″. Er bringt erstmals einem deutschen Publikum die argentinische Journalistin Leila Guerriero (*1967) näher, deren crónicas – literarische Reportagen – sich auf ihrem Kontinent bereits einer grossen Popularität erfreuen. Mit Recht, wie die zehn hier versammelten Texte beweisen.
Titel: strange fruit
Original: Frutos extraños
Autorin: Leila Guerriero
Übersetzung: Kirsten Brandt
Verlag: Ullstein
ISBN: 978-3-550-08060-9
Umfang: 272 Seiten, gebunden m. Schutzumschlag
“Das Einzige, was in der crónica nichts zu suchen hat”, schreibt Guerriero in ihrem Vorwort, das die Textgattung erläutert, “ist das, was nicht existiert.” Sie arbeitet mit einer Methode, die das Wie über das Was stellt: während Letzteres in ihren Texten immer bis ins letzte Detail der Wirklichkeit entnommen sein soll, ist es an Ersterem – sie spricht von den “Winden”, die eine Geschichte weitertragen -, die Begebenheit zu einem packenden, literarischen Text zu formen, die Wirklichkeit als unerhörte novellistische Begebenheit zu behandeln.
Die zehn hier versammelten Texte, zumeist in Guerrieros Heimatland Argentinien angesiedelt, folgen oft Einzelpersonen mit extremen Lebensgeschichten. Da gibt es die Geschichte des an den Rollstuhl gefesselten, todkranken, einsamen 2.30m-Riesen Jorge González, einem ehemaligen Basketballer und Wrestler, der in trüber Umgebung, für die Guerriero immer ein scharfes Auge hat, seine letzten Tage verlebt.
Es wird berichtet von einer angeblichen Kindermörderin, einem Kardiologen, der als Freddie-Mercury-Double auftritt und immer mehr zur Person wird, die er imitiert, von einem Besuch beim peruanischen Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa und seiner Grossfamilie in Madrid oder von der verurteilten Giftmörderin Yiya Murano, die angeblich drei Freundinnen mit Blausäure ermordet hat, dies jedoch heftig bestreitet. Gerade in dieser crónica kommt die stilistische Meisterschaft Leila Guerrieros hervorragend zum Ausdruck: Sie lässt viel Raum für die direkte Rede der Beteiligten und mischt sich selbst nur sehr selten ein. “(I)ch liebe es, die Wirklichkeit zu betreten wie einen Basar voller Gläser: Ich fasse kaum etwas an und verändere nichts”, heisst es im Vorwort. Und obschon die Autorin dem Geschehen seinen Lauf lässt, versteht sie es mit literarischem Geschick, dem Text eine Richtung zu geben, dieser ambivalenten Episode um die ungeständige Giftmischerin etwa den Geschmack des Unglaubens gegenüber den Aussagen von Murano beizumischen.
Sind es nicht Einzelpersonen, die den Mittelpunkt eines Textes bilden, so hat sich Guerriero Kollektiven angenommen: diese mögen klein sein, wie etwa die Gruppe sogenannt forensischer Anthropologen, die Knochen von Verschwundenen aus der Zeit der argentinischen Militärdiktatur (1976-83) ausgräbt und die Personen zu identifizieren sucht; sie mögen gross und heterogen sein, wie das Kollektiv der Händler, die am gigantischen illegalen Markt La Salada ausserhalb von Buenos Aires ihre Waren feilhalten; oder sie bilden ein ganzes nationales Kollektiv, wie etwa die Bevölkerung Simbabwes in der einzigen ausserhalb der spanischsprachigen Welt angesiedelten crónica: hier wird das beängstigende Bild einer an Arbeitslosigkeit, Armut und Krankheit zu Grunde gehenden, perspektivenlosen Bevölkerung gezeichnet.
Weshalb sie keine Romane schreibt? Im Vorwort, das übrigens “Poetisch wie ein Roman” betitelt ist, schreibt Guerriero, sie habe “nicht den Eindruck, dass [ihre] Phantasie [der Wirklichkeit] noch etwas Wesentliches hinzuzufügen hätte.” Und in der Tat muten die Dinge, die die Argentinierin der Wirklichkeit entlockt hat wie die Stoffe für grandiose Literatur an. Es gebe noch keine Belletristikautoren, die sich von bedeutenden crónica-Autoren inspirieren liessen, heisst es da, aber “es wird eine Zeit kommen, da geschieht auch das.” Was es hingegen gibt, ist der sogenannte Magische Realismus, jene das Übernatürliche mit dem Wirklichen verschmelzende literarische Gattung, der einige der grössten Autoren Lateinamerikas angehören. Liest man Guerrieros crónicas, verschafft sich auf diese Weise einen Einblick in die Gesellschaften des südamerikanischen Kontinents, erscheint es nicht verwunderlich, dass genau hier das Magische und das Reale literarisch zueinander gefunden haben. In diesen kurzen Prosastücken zeigt sich, dass die Wirklichkeit, weiss man sie nur richtig zu erzählen, was Guerriero für sich in Anspruch nehmen darf, eine schier unermessliche Fülle an Phantastischem in sich trägt.