Rezension: J.M. Coetzee – Die Kindheit Jesu (Fischer, 2013)

Erscheint ein neuer Roman des südafrikanisch-australischen Nobelpreisträgers J.M. Coetzee, sind die Seiten, die Kritiker und Wissenschaftler mit Deutungsansätzen gefüllt haben, schon bald länger als der Roman selbst. Sein neuster Streich, “Die Kindheit Jesu”, provoziert die vielen Exegeten nur schon durch seinen Titel. Ein Tipp für pragmatisches Lesen: Lassen Sie sich vom Titel nicht ablenken.

coetzee

Titel: Die Kindheit Jesu (The Childhood of Jesus)
Autor: J.M. Coetzee
Übersetzung: Reinhild Böhnke
Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-10-010825-8
Umfang: 351 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag

Klar, man kann Parallelen entdecken: Der Protagonist des Buchs, der fünfjährige David, hat einen Vater, der nicht sein Vater ist, und eine Mutter, die ihn nicht geboren hat. Er ist irgendwie speziell, sagt Dinge, die so niemand sagt, ist einer, der sich dem bestehenden System nicht fügt. In der Schule schreibt er einmal an die Tafel “Yo soy la verdad”, Ich bin die Wahrheit. Der Name Jesus erscheint im Buch kein einziges Mal.

Widmen wir uns der erzählten Geschichte:

“Reingewaschen” von ihrer Vergangenheit erreichen der Junge David und der Mann Simón die Stadt Novilla. David wurde in einem Flüchtlingslager von seiner Mutter getrennt, Simón hat sich zu seinem Beschützer ernannt. David und Simón sind nicht ihre richtigen Namen, sie wurden ihnen im Lager gegeben, ebenso wie ihnen eine neue Sprache gegeben wurde. Mittellos und als Fremde kommen sie in ein Land, das uns zutiefst fremd erscheint.

Simón kommt vermutlich aus einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft, er hat Begehrlichkeiten, er hat Hunger, er sehnt sich nach körperlicher Liebe. Im kargen, leicht sozialistischen Novilla aber trifft er auf eine ironiefreie Genügsamkeit, die der Liebe das Wohlwollen (“goodwill”) vorzieht, die einer gefährlichen Gleichgültigkeit anheimgefallen scheint. Als Simón, der sich als Schauermann verdingt, seinen Vorarbeiter fragt, weshalb es hier kein Radio gebe, mit Nachrichten davon, was in der Welt geschieht, fragt der Vorarbeiter: “Oh (…) geschieht etwas?”

Zwar gehen die Leute in Novilla in eine Art Abendschule, wo sie Philosophiekurse belegen, doch ist es eine nichtssagende Objektphilosophie, die da gelehrt wird: es wird über das Stuhlhafte an einem Stuhl diskutiert. Und Simón sagt dazu:

“Tut mir leid, aber das ist nicht meine Art von Philosophie.”
“Welche Art von Philosophie würde dir denn gefallen?”, fragt Eugenio.
“Die Art, die einen erschüttert. Die das Leben verändert.”
Eugenio schaut ihn verwundert an. “Stimmt den etwas nicht mit deinem Leben?”, fragt er.

In dieser Umgebung beginnt Simón die Mutter des Knaben zu suchen: er ist überzeugt, dass David sie intuitiv erkennen wird, obwohl ihm die Erinnerung an sie fehlt. Auf einem Tennisplatz sehen sie die Frau Inés – und es ist der alte Mann, der Davids Mutter in ihr zu wissen glaubt. (Warum?) Er fragt sie, ob sie sich dem Kind annehmen möchte und sie bejaht. Es beginnt eine ethisch-moralische Odyssee, in deren Zentrum der ungewöhnliche Junge steht. Um ihn herum: die Parteien, die sich um seine Erziehung bemühen. Die überprotektive “Mutter” Inés, die David verbietet mit anderen Kindern zu spielen; der “Vater”, der dem aufmüpfigen, furchtbar altklugen Kind die Ordnung der Welt beibringen will; Lehrer und Psychologen, die dem Kind einen “Rückzug in eine Phantasiewelt, über die es keine Kontrolle mehr hat” attestieren und es in eine geschlossene Anstalt stecken wollen. Und irgendwann die Frage: “Was, wenn dieser Junge der Einzige unter uns ist, der Augen hat zu sehen?”

Souverän manövriert sich Coetzee durch die Geschichte; lotet, oft in Dialogform, die ganz grossen Themen aus: Fremdsein, Heimat, Einsamkeit, Selbstbestimmung. Angesiedelt in einer Welt, die der seines Frühwerks “Warten auf die Barbaren” nicht unähnlich ist, gelingt es dem Autor fabelhaft, seine erzählerische Contenance zu wahren, sein Stil ist besonnen, er schreit einen nicht an. Gespickt mit Rätseln und allegorischen Darstellungen mag sich der findige Literaturkenner und/oder Codeknacker an die Dechiffrierung dieses Werks machen. Doch ist Coetzees wahre Meisterschaft, dass sich die “Kindheit Jesu” auch ohne detaillierte Entzifferung aller Geheimnisse geniessen lässt und Denkanstösse in mannigfaltige Richtungen zu geben vermag.

Wertung: 8 / 10



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