“Wie grosse Literatur den Sinn des Lebens erklärt” heisst der Untertitel dieses philosophischen Buches, das sich grossspurig zum Ziel setzt, jenes Leuchten in unsere nihilistische Gesellschaft zurückzubringen. Die beiden Verfasser – ihrerseits ein koryphäischer alter Philosophieprofessor und sein Protégé – entpuppen sich dabei als clevere, gebildete Leser und Analytiker literarischer Meisterwerke, haben jedoch ärgerlicherweise ein geradezu peinlich fortschrittsfeindliches, festgefahrenes Weltbild, dass ihre Botschaft bisweilen den Eindruck der Lächerlichkeit nicht abzustreifen vermag.
Da ist die Stelle mit dem Kaffee: Im letzten Kapitel, das “Fazit: Vom erfüllten Leben in einem säkularen Zeitalter” betitelt ist, versuchen die Autoren jenes Leuchten, das sie zuvor auf mehr als dreihundert Seiten in literarischen Werken – von Homer und Aischylos über Dante und Herman Melville bis zu David Foster Wallace – offengelegt haben, auf den Alltag im 21. Jahrhundert zu proijzieren. Sie nehmen dazu das einfache Ritual des morgendlichen Kaffeetrinkens. Sie stellen sich dazu die Frage, ob es wichtig sei, Wert auf das Gefäss zu legen, aus dem dieser Kaffee konsumiert wird. Sie beantworten die Frage mit einem klaren Ja und werfen denjenigen, die den Kaffee “unspezifisch”, d.h. ohne dem Behältnis Bedeutung zuzuschreiben, trinken, Folgendes an den Kopf:
“Wenn man die Handlung des Kaffeetrinkens auf solche Weise vollzieht, dehumanisiert man sich selbst. (…) Wir entmenschlichen uns, weil wir die Möglichkeit verstreichen lassen, Sorgfalt walten zu lassen.”
Titel: Alles, was leuchtet
Original: All Things Shining (2011)
Autoren: Hubert Dreyfus, Sean Dorrance Kelly
Übersetzung: Yvonne Badal
Verlag: Ullstein
ISBN: 978-3-550-08063-0
Umfang: 368 Seiten, gebunden m. Schutzumschlag
Es ist dies einer der Gipfelpunkte der Lächerlichkeiten, die die Herren Dreyfus und Kelly hinsichtlich unserer heutigen Lebenswelten preisgeben. Geradezu offensiv etwa ist auch ihre Abneigung gegen die Technologie, die “die Welt immer nichtssagender” mache und von den Autoren als “ernsthafte Gefahr” für die Gesellschaft interpretiert wird. Und weshalb? Die Technologie befreit uns – und natürlich stimmt das – “von der Notwendigkeit individuellen Geschicks”, wodurch niemand mehr besondere Kunstfertigkeiten zu erwerben hat und sich so dem heute vorherrschenden “Nihilismus”, den Wogen “jener entzauberten Welt, die wir heute bewohnen” hingibt. Die Fortschrittsfeindlichkeit und stellenweise Blindheit gegenüber den untrüglichen Vorzügen etwa der Technologie, sind sehr ärgerlich und sorgen dafür, dass das Buch letztendlich einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt.
Denn zweifellos sind da auch positive Seiten: Dreyfus und Kelly zeigen sich als gewitzte Analytiker literarischer Werke, gesegnet mit der Fähigkeit, komplexe Sachverhalte leicht verständlich darzustellen, die tieferen Geheimnisse eines Textes offenzulegen und Querverbindungen herzustellen (So werden auch schon mal verblüffende Analogien zwischen der Odyssee und Quentin Tarantinos “Pulp Fiction” herausgearbeitet).Im Mittelpunkt der Analysen stehen die Odyssee, Dantes Göttliche Komödie, Herman Melvilles “Moby Dick”, die Bibel, Texte von Aischylos, Augustinus, Kant und David Foster Wallace. Kurzum: “grosse Literatur”, die Menschen- und Weltbilder verändert hat. Sie wird auf die zentrale Frage hin untersucht: “(…)welches Verständnis vom Menschsein hat die verschiedenen Epochen der abendländischen Geschichte geprägt?” Eine hochinteressante Frage, die mit den fachkundigen Analysen ausführlich beantwortet wird, wobei wohl selbst gute Kenner der besprochenen Literatur noch auf neue Perspektiven stossen werden, solche, die die Texte aber nicht kennen, eine spannende Einführung erhalten. So weit, so gut. Nur eben wird mit den Folgefragen – “(…)wie gelang es uns, mit diesen Denkweisen über unsere Menschlichkeit und das Heilige des Problem des Nihilismus in Schach zu halten?” und “Können wir aus den unterschiedlichen Selbstbildern, die wir im Laufe der Geschichte entwickelt haben, heute etwas bergen, das uns hilft, dem Nihilismus unseres eigenen säkularen Zeitalters Paroli zu bieten?” – ein gewisses Abdrehen in dogmatische Gefilde herbeigeführt. Die Autoren plädieren insgesamt dafür, eine Art Homerischen Polytheismus (der ausführlich erklärt wird) als Lebensgrundlage zu wählen, wobei das Leuchtende, Göttliche unserer Zeit etwa in der Ekstase der Menschen an einem Sportanlass zu finden ist (vgl. David Foster Wallace: “Roger Federer as religious experience”). Dies mag einleuchten, befremdend jedoch ist das damit einhergehende Plädoyer der Autoren für eine Art prä-aufgeklärte Abgabe der Verantwortung, die Antithese zu Sartres Existenzialismus, der dem Menschen “die totale Verantwortung für sein Dasein aufzubürden” suchte. Diese Position ist einerseits etwas widersprüchlich, denn ist nicht auch das heutige Vertrauen auf die Technologie – sie selbst beschreiben es am Beispiel des GPS-Geräts – ein Abgeben von Verantwortung, ein Teil des Lebens, den man der eigenen Kontrolle entzieht? Dies wird jedoch als negativ gewertet, indes dem Leser empfohlen wird, sich in anderen Lebensbereichen auf den Kontrollverlust einzulassen. Aber sollte man das? Die Autoren sagen dazu abschliessend: “Wir stellen keine moralistischen Forderungen, wir zeigen auf, was die Götter von uns fordern.” …
Insgesamt bleibt, wie gesagt, ein zwiespältiger Eindruck: die gewitzten, gelehrten Literaturanalysen überzeugen, die Thesen zu unserer säkularen Gesellschaft, die als Leitfaden für ein gutes Leben in derjenigen gedacht sind, befremden hingegen mehrheitlich. Doch liegt in diesem Befremdenden immerhin ein grosser Anreiz, weiterzudenken und den offensichtlichen Misstönen in den Thesen von Dreyfus und Kelly genauer auf die Spur zu kommen.