Marie-Sabine Roger
Heute beginnt der Rest des Lebens
Originaltitel: Trente-six chandelles
übersetzt von Claudia Kalscheuer
Atlantik, 1. Auflage 2015
Hardcover
256 Seiten
978-3-455-60020-9
Sein sechsunddreißigster Geburtstag ist für Mortimer alles andere als ein Grund zum Feiern. Schließlich sind alle männlichen Vorfahren seiner Familie – das hat er akribisch recherchiert – an ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag um elf Uhr vormittags verstorben. Seinen Vater, Großvater und Urgroßvater erwischte es jeweils auf ziemlich unschöne Weise und vor allem ziemlich unvorbereitet. Nicht so Mortimer: Er hat pünktlich Job und Mietvertrag gekündigt, sein Auto verkauft und liegt am Vormittag seines Wiegenfestes im eigens dafür besorgten Beerdigungsanzug im Bett, bereit aus dem Leben zu scheiden – und wird wider Erwarten vom Familienfluch verschont.
Was jeden anderen aber erleichtert aufatmen lassen würde, stellt Morty vor schwierige Entscheidungen. Denn plötzlich muss der Mann, der nie irgendwelche Ambitionen in Bezug auf Karriere oder zwischenmenschliche Bindungen hatte, anfangen zu leben – und das ist für Mortimer, der sich dem Leben bislang konsequent verweigert hat, gar nicht so leicht.
»Alles hätte mich davon überzeugen müssen abzuhauen, zu reisen, jeden Tag zu nutzen wie einen kostbaren Schatz, aber nein, ich tat genau das, was wir alle tun: Ich vergeudete meine Zeit und jammerte darüber, wie sie verrann.«
Damit könnte Mortimers schicksalsschwere Geschichte eine furchtbar traurige sein, wären da nicht sein trocken-humoriger Erzählstil, der den Leser mit vielen Abschweifungen, Rückblicken und Anekdoten – so viel Zeit hat Morty schließlich jetzt – unterhält, und Marie-Sabine Rogers herrlich skurrile und etwas andere Figuren, in denen man dennoch immer ein Stückchen von sich selbst wiederfinden kann. Angefangen bei Paquita, der fürsorglichen Mutti ohne Kinder, und Nassardine, dem pragmatischen Ruhepol, der immer eine kleine Weisheit parat hat. Und schließlich ist da noch Jasmine, die mit ihrer lebensbejahenden Offenherzigkeit das komplette Gegenstück zu Morty bildet. Alle zusammen ergeben sie eine bunte Truppe, die sich schneller in mein Herz geschlichen hatte, als ich Seiten umblättern konnte.
Wer beim Titel des Buches allerdings darauf hofft, Mortimer nun in eine strahlende Zukunft aufbrechen zu sehen, wird beim Lesen eher enttäuscht sein. Der besagte „Rest des Lebens“ bleibt im Nebel, als Leser darf man nicht viel mehr als einen verschwommenen Blick darauf werfen. Stattdessen endet das Buch an dem Punkt, den sein Titel beschreibt: im Heute, dort, wo Mortys neues Leben gerade erst beginnt. So bleibt die Frage offen, ob Mortimers Zukunft nun glücklicher verlaufen wird, ob er scheitern oder erfolgreich sein wird – wie wohl für jeden Menschen, der ein neues Leben beginnt.
»Wenn unser Leben uns nicht gefällt, dann müssen wir alles daransetzen, es zu ändern. Weil wir nämlich, bis zum Beweis des Gegenteils, nur eines haben. Und das geht vorbei.«
Marie-Sabine Roger ist damit eine interessante Parabel auf das wahre Leben gelungen, in dem wir uns aus Angst vor den Konsequenzen nur allzu oft vor Veränderungen und Wagnissen scheuen. Während wir uns oft denken, später noch genug Zeit zu haben, um das Leben zu genießen, oder einfach mal „abwarten, was noch so kommt“, wagt Mortimer sechsunddreißig Jahre lang nicht zu leben, weil er glaubt, dass es sich nicht lohnt; vielleicht aber auch aus Angst, Spaß daran zu finden und sich letztendlich an ein Leben zu klammern, das er ja doch nicht leben kann.
Eines hat Morty mir als Leser damit jedenfalls vor Augen geführt: Es ist ein Privileg, im Heute leben und von morgen träumen zu können. Eins, das wir wohl viel zu selten wirklich nutzen.