Rezension: Herman Koch – Sehr geehrter Herr M. (Kiepenheuer & Witsch 2015)

Wenn von einem Buch des niederländischen Autors Herman Koch die Rede ist, fällt gerne der Begriff “Bestsellerautor”. In seinem aktuellen Roman “Sehr geehrter Herr M.” geht es dann auch gleich um einen solchen. Ein alternder Schriftsteller, der in den Lebensgeschichten zweier Gymnasiasten gewühlt hat, wird von der Vergangenheit eingeholt. Sein Werk vermag wohl vor dem Publikum, nicht aber vor der Wahrheit zu bestehen. Ein labyrinthisches Vergnügen, spannungsgeladen und auf wohltuende Art irritierend.

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“Sehr geehrter Herr M.”: So beginnt der erste Teil des Romans. Der alte Schriftsteller M. wird von seinem jüngeren Nachbarn angeschrieben, der sich als unberechenbarer Stalker entpuppt, der jede Bewegung im Obergeschoss minutiös registriert. M., seine viel jüngere Frau und ihre kleine Tochter scheinen in Gefahr. Bald erzählt der Schreiber von einer mehrere Jahrzehnte zurückliegenden Geschichte um die beiden verliebten Gymnasiasten Herman und Laura, denen vorgeworfen wird, den Englischlehrer Jan Landzaat ermordet zu haben, mit welchem Laura zuvor eine Affäre gehabt hatte. Fakt ist: Landzaats Leiche wurde nie gefunden, der Lehrer gilt bis heute als vermisst. Der Schriftsteller M., der vornamentlich übrigens ebenfalls Herman heisst, hat die Geschichte damals literarisch ausgeschlachtet, die Gymnasiasten zu Mördern gemacht und damit seinen grössten Erfolg – “Abrechnung” – gefeiert.

Nun ist M. alt, kämpft mit nebulösen Rentnerinnen an stickigen Nachmittagslesungen, sinkenden Verkaufszahlen, aggressiven Interviewern und seinem Erzrivalen N., mit dem er sich gar in eine Prügelei stürzt. Vor allem aber beginnt sich ihm die Wahrheit aufzudrängen. Der zweite Teil, der aus seiner Perspektive geschrieben ist, entlarvt ihn als arrogant und misanthropisch, im Kampf mit inneren familiären Dämonen, voller nicht gesellschaftsfähiger Ansichten, die er nicht mehr länger zu unterdrücken gedenkt.

Der dritte Teil wiederum blendet zurück und verfolgt die Ereignisse jener Nacht, in der Landzaat verschwand, aus Lauras Perspektive, die mit Herman in einem Liebesnest in den verschneiten niederländischen Sümpfen verbrachte und dort von ihrem aufgebrachten Ex-Liebhaber Landzaat überrascht wird. Inzwischen nähert sich in der Jetzt-Zeitebene der Briefeschreiber dem Schriftsteller an und führt mit ihm im vierten Teil ein ausführliches Interview über die Entstehung von “Abrechnung”.

Immer stärker vermischen sich im Laufe des Buches die Perspektiven und Zeitebenen, Koch springt hin und her auf der Suche nach der Wahrheit und Schuld. Was ist geschehen und wer trägt die Verantwortung dafür? Ist es überhaupt möglich Schuldige zu benennen? Das sind die Kernfragen des Kriminalfalles. Im Weiteren thematisiert der Text durch seine Anlage stets das Verhältnis von Realität und Fiktion mit, nicht zuletzt in leichten autobiographischen Anfärbungen, die er wohl beiden Hermans mit auf den Weg gibt. Und über allem die Frage: Reicht es, wenn ein Roman vor seinem Publikum besteht, oder hat er, wenn er auf tatsächlichen Begebenheiten aufbaut, auch eine Verpflichtung der Wahrheit gegenüber?

Herman Koch (*1953), Schriftsteller und Komiker, wie gesagt: Bestsellerautor, der mit  “Angerichtet” (2010) oder “Sommerhaus mit Swimmingpool” (2011) grosse Erfolge feiern konnte, erweist sich als Meister des labyrinthischen Spannungsaufbaus, hinführend – fast hat man es geahnt – auf eine gelungene finale Pointe. “Sehr geehrter Herr M.” präsentiert Menschen in ihrem wirklichsten Gewand: ambivalent, egoistisch, zu Schlechterem fähig, als sie sich eingestehen möchten (insbesondere Lehrer und Schriftsteller kommen nicht glimpflich davon!). Eine spannungsgeladene, vergnügliche und provozierende Lektüre.

Koch, Herman. Sehr geehrter Herr M. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby und Herbert Post. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2015. 400 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-462-04738-7


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