'Gretchen'
von einzlkind
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Gretchen Morgenthau ist eine Legende des Theaters. Zum Unglück ihrer Mitmenschen eine lebende. Die Karriere als Intendantin hat sie beendet, den Gottesstatus aber behalten. Ihr Leben in London könnte kaum großartiger sein. Doch dann geschieht das Undenkbare. Wegen einer Unachtsamkeit wird Gretchen zu vier Wochen auf einer Vulkaninsel bei Island verurteilt. Sie soll mit den Einheimischen ein Theaterstück aufführen. Keine gute Idee.
(Source: Heyne)
Gretchen Morgenthau, 75 Jahre jung, geboren in Wien, aufgewachsen überall, hat ein abwechslungsreiches Leben am Theater verbracht und lebt jetzt in einer bescheidenen 120 Quadratmeter großen Wohnung in ihrer Wahlheimat London. Ihre Tage sind entbehrungsreich und voller schwerer Entscheidungen - heute ein Kleid von Luis Vuitton oder doch lieber Christian Dior? Welches Täschchen passt dazu? Welches Buch mit einem farblich passenden Cover und intellektuell ansprechendem Inhalt könnte man sich dazu unter den Arm klemmen? Ganz aus Versehen wurde sie letztens dabei erwischt, wie sie nach nur sechs bis höchstens acht Gläsern Wein Auto gefahren ist. Eventuell hat sie dabei noch die Polizistin beleidigt und deren Dienstwagen angefahren und ist deshalb ziemlich außer sich, als das Gericht ihr eine Strafe aufbrummt: Aus rein erzieherischen Zwecken muss sie sich ein paar Wochen auf der Insel Gwynfaer bei Island aufhalten und dort im Dorftheater Regie führen.
Gleich nach den ersten Zeilen wird klar, dass es sich bei der Protagonistin Gretchen Morgenthau um ein ganz besonderes Persönchen handelt. Eventuell auf ihre sehr spezielle Art sympathisch, aber im Grunde doch ein ziemliches Miststück und vor allem immer grundehrlich und direkt. Sie nimmt alles wörtlich, schlägt als Giftspritze ihre Gesprächspartner vor den Kopf, über- und untertreibt maßlos und kann sich ohne vor Sarkasmus triefenden Äußerungen gar nicht unterhalten. Obwohl ich mir sicher bin: Die meint das im tiefsten Inneren alles ernst. Fans von schwarzem Humor kommen hier auf jeden Fall nicht zu kurz, aber allzu sensibel sollte der Leser auch nicht sein. Einige Äußerungen könnten schon persönliche Grenzen überschreiten (siehe zum Beispiel Zitat 1 weiter unten). Für mich hat aber genau dieser Humor den Charme dieser Geschichte ausgemacht. Die Lektüre hat Spaß gemacht, hat mich an einigen Stellen sprachlos zurückgelassen oder vor Lachen gefährlich auf meinem Stuhl schwanken lassen.
Doch es geht in diesem Buch, das zwar nach ihr benannt wurde, nicht ausschließlich um Gretchen. Es geht um Kultur, um Menschen, um Beziehungen. Auf der Vulkaninsel Gwynfaer lernen wir noch so einige weitere Persönlichkeiten kennen, die mit voller Wucht gegen unsere Frau Intendantin prallen, allen voran Kyell, der später von Gretchen zum persönlichen Assistenten auserkoren wird. Zu Beginn des Buches musste er noch den Kater Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, liebevoll auch Stalin genannt, kastrieren (ja, da gibt's detailreiche Beschreibungen), weil der Inseltierarzt noch seinen Rausch ausschlief, später muss er Gretchen über die Insel führen, ihr Gepäck tragen und sie wieder gesund pflegen (schwerer Alkoholrausch). Es geht auch noch um Tule, ursprünglich mal Kyells Kumpel, jetzt Gretchens Regieassistent, der nun alle Plattitüden, die im Kulturbetrieb vorkommen könnten, in einem Satz nachplappert und jedes Stereotyp perfekt in sich vereint. Damit treibt er natürlich nicht nur Gretchen in den Wahnsinn, auch ich als Leser musste mich so unglaublich fremdschämen. So interessant die Charaktere hier auch sind, so froh bin ich, dass ich niemanden im echten Leben begegnen müsste. Das wäre garantiert nicht gut für den Blutdruck. Dazu kam leider noch ein kleiner Wermutstropfen: Zwar waren die Charaktere spannend und zugespitzt, aber leider auch ziemlich einseitig. Gretchen konnte zwar immer wieder überraschen, weil sie einfach total verrückt ist, doch ihr Sarkasmus war dann doch immer der Gleiche. Immerhin blieb sie sich bis zum Ende des Romans treu - und damit garantiert ein Charakter, der in Erinnerung bleibt.
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Sehr schlicht und unauffällig. Vom Cover allein wäre ich nie auf die Idee gekommen, welch schwarzer Humor sich in der Geschichte verstecken könnte. Naja, nein, eher welcher schwarzer Humor dem Leser mitten ins Gesicht springt.
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Gretchen, nicht nur die Protagonistin sondern auch das Buch, ist böse, scharfsinnig und witzig. Es ist eine tolle Satire, die mit einer guten Portion Sarkasmus die Theaterwelt, Haute Couture und das Aufeinandertreffen verschiedenster Kulturen - Gretchen bildet ja mindestens ihre eigene - beleuchtet sowie knallhart und ehrlich das Leben aus einem ganz außergewöhnlichen Blickwinkel zeigt.
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4 of 5 points - (Great, Great, Great)
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(© einzlkind)
In Marylebone steckten sie fest, keinen Zentimeter ging es vorwärts, von weit her waren Sirenen zu hören, wahrscheinlich übten Menschen wieder totfahren.
Seine erste Freundin hieß Elin. Sie war acht, Kyell schon neun, aber der Altersunterschied war schnell vergessen, denn die Liebe machte in Gwynfaer die Menschen blind, kaum dass sie über den Gartenzaun spinksen konnten. Sie hatten sich beim Schneeballwerfen kennengelernt. Elins Wurftechnik war atemberaubend.
"[...] Sie fragte nicht mal, ob ich eine Tüte wolle. Wollte ich auch nicht, ich hatte ja einen Jutebeutel von Gaultier dabei, aber fragen hätte sie schon können, wie will man denn sonst eine Kundenbindung aufbauen?"
"Frau Intendantin, wenn Sie bitte mal zum Punkt kommen könnten."
"Welcher Punkt? Der Jutebeutel war eine limitierte Sonderanfertigung."
Liebste Grüße
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An dieser Stelle mal etwas anderes. Ich habe mehrere "Über den Autor"-Texte gefunden und, da ich sie genial finde, teile ich einfach beide. Vergleicht gerne Text und Foto. Dieser Mensch scheint ein einziges Kunststück zu sein.
Der Autor lebt in England. Oder in Deutschland. Er ist militanter Nichtraucher und schwer übergewichtig. Neulich erst hat er eine neue Kaffeemaschine gekauft. Seine alte war kaputt. (in seinem ersten Werk Harold)
Der Autor lebt. Sein Vorname ist vielleicht betamax. Obwohl er ja dann ein Videorekorder wäre. So viel aber kann verraten werden: Ein Videorekorder ist er nicht. Ansonsten gibt es kaum Neues zu berichten. (in Gretchen)
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