Eine Reise voller Licht und Schatten. C'est la vie.
Die fünfzehnjährige Nellie kann es nicht fassen: Ihr Bruder Kolja ist auf und davon, nach Avignon. Doch ohne ihn hält sie es zuhause nicht aus. Denn Kolja war immer Nellies Ein und Alles. Daher fasst sie den Entschluss gemeinsam mit Familienhund Jackson nach Südfrankreich zu trampen, um Kolja zurückzuholen. Ein Vorhaben, das Nellie und Jackson schneller in Bedrängnis bringt, als ihnen lieb ist. Bis wie aus dem Nichts die freundliche, obgleich mächtig eigentümliche Miss Wedlock in ihrem altersschwachen Oldtimer auftaucht. Eine Fügung des Schicksals, die für den trampenden Teenager zu einem echten Fingerzeig werden soll. Außerdem gibt es da noch Elias — den Jungen mit dem Herzen aus Gold und der Vergangenheit getränkt in Schatten. Gemeinsam macht sich das Quartett auf den Weg in den Süden, um so viel mehr zu finden als Kolja.
Katrin Zipses ausdrucksstarker Debütroman Glücksdrachenzeit erzählt eine berührende und zugleich lebhafte Geschichte vom Verlieren und Vermissen, vom Suchen und Finden, vom Akzeptieren und Nach-vorn-Schauen.
Mit Nellie als mal zu allem entschlossene, mal allzu blauäugige Protagonistin erweckt Katrin Zipse einen Charakter zum Leben, dessen Reise nicht nur Spannung, sondern ebenfalls die aufrichtige Jagd nach einem kleinen Stückchen Vollkommenheit — nach der unantastbaren Glücksdrachenzeit — ausmacht.
Um Nellie herum fächert sich die Handlung um ein kleines, aber umso feineres Ensemble vielschichtiger Figuren auf, deren jeweilige Einzelschicksale das Leben mit anderen Augen sehen lassen.
Beeindruckend finde ich die Balance zwischen bitterer Scharfkantigkeit und süßer Sehnsucht nach Freiheit, welche die Autorin kreiert. Mittels ihrer Erzählung konfrontiert Katrin Zipse auf geschickte, feinfühlige Weise mit Themen wie Verlust, Trauerarbeit und Einsamkeit. Andererseits leuchten die von ihr geschaffenen Augenblicke der Unbedarftheit und Abenteuerlust wie das wegweisende Feuer, das ein Drache speit.
Nicht weniger einnehmend ist der Spannungsbogen des Romans. Was als Roadtrip mit Ziel beginnt, entwickelt sich zu einem brenzligen Wettlauf gegen gefährliche Wahrheiten und unsichtbare Ängste, die sich als Geiselnehmer entpuppen. Temporeich und nichtsdestotrotz tiefschichtig kommt der Handlungsverlauf daher.Ebenso eine Erwähnung wert sind sowohl die erfrischende junge, aber keinesfalls oberflächliche Erzählweise der Geschichte als auch die unkonventionell ausgestalteten Umfänge der einzelnen Kapitel. Letztere sind nicht selten nur wenige Zeilen oder gar nur einen Satz lang. Gedankensprünge, Perspektivwechsel und die Hervorhebung einzelner wertgebender Emotionen werden damit besonders eingekreist.Katrin Zipse gelingt es, das Fundament eines leichtfüßigem, unbedarften Roadtrips als Teenagerabenteuer mit einer Tonalität zu versehen, die aufhorchen lässt. In eine einladende Kulisse pflegt sie weniger angenehme Momente der Selbstreflektion ein, die wehtun können, aber unerlässlich sind. Das bunte, ausgelassene Filmfestival von Avignon wird somit zum Schauplatz einer lebensnahen Auseinandersetzung und Selbstfindung.Insgesamt ein gehaltvoller Roman, der Leser allen Alters ansprechen sollte. Eine Geschichte voller Impulse, die dafür sprechen, dem Leben gegenüber dankbar(er) zu sein.
F★ZIT: Festhaltend. Entdeckend. Loslassend.