In diesem Sammelband versammelt die Grazer Romanistikprofessorin und Übersetzerin Erna Pfeiffer Werkauszüge, Kurzportraits und Interviews von insgesamt 17 jüdisch-argentinischen Autoren (5) und Autorinnen (12). Garniert wird die Zusammenstellung von historischen und literaturtheoretischen Essays, die unter anderem interessante Einblicke in die grösste jüdische Gemeinschaft Lateinamerikas und ins Phänomen der Zugehörigkeit gewähren.
Obwohl Argentinien im Urtext jüdisch-argentinischer Literatur, Alberto Gerchunoffs “Jüdische Gauchos” (1910), als ‘neues Sion’ gepriesen worden war, fanden sich die Juden, die vielfach auf der Flucht vor Pogromen in Osteuropa nach Südamerika gekommen waren, auch in Argentinien mit Widrigkeiten konfrontiert, wie etwa die Massaker der Semana tragica (Tragische Woche) 1919 erschreckend bestätigen. Die Mehrheit der in Pfeiffers Band versammelten Autorinnen und Autoren (Geburtsjahre 1933-1977) wiederum war in irgendeiner Form von der Militärdiktatur betroffen, die Argentinien von 1976 – 1983 regiert. Dieses Regime verursachte eine Welle der Emigrationen und Landesfluchten, der sich viele Künstler anschlossen. So kommt es, dass viele Vertreter der jüdisch-argentinischen Autorengemeinschaft auch heute noch im Exil leben, ihre Texte ausserhalb der Heimat verfassen – so denn Argentinien für sie überhaupt je zur Heimat geworden ist.
Das Fehlen einer nationalen Zugehörigkeit ist in vielen der von Pfeiffer übersetzten Textauszüge, übrigens alles Prosa, zu spüren und wird auch in einem den Band abschliessenden Essay von Elisabeth Baldauf thematisiert. Sie präsentiert ein aufschlussreiches Diagramm möglicher Formen von Zugehörigkeit. Zu diesen gehört natürlich auch die Religion, die aufgrund des jüdischen Aspektes bei vielen Autoren im Vordergrund steht. Nicht alle jedoch haben im Judentum einen Ersatz für die fehlende Heimat gefunden. Im Auszug aus “Einmal Argentinien” von Andrés Neuman (*1977) etwa, gelingt es dem Ich-Erzähler weder sich an den jüdischen noch an den argentinischen katholischen Glauben anzupassen, viel eher hält er Ausschau nach Identifikationsangeboten aus der Populärkultur, wo er etwa dem Fussball begegnet, der in Argentinien einen hohen Stellenwert geniesst.
Grosser gemeinsamer Nenner der Zugehörigkeiten sind die Familie und die Sprache, die in fast allen Textauszügen zentrale Rollen einnehmen. Die Familie als Überlieferung, als nicht selbst erlebte Immigrantengeschichte, die nachzuzeichnen versucht wird. Die Familie aber auch konkret, gegenwartsbezogen, als verfluchter oder segensreicher Anker. Es gibt Autorinnen wie etwa Diana Raznovich (*1945), die sich der Materie mit dem Stilmittel des Humors nähern. Wie der vierzigjährige Gynäkologe Berele mit seiner jiddischen Mame zum Paartherapeuten geht, weil diese sich nun für die erotische Selbstbefreiung der Frau interessiert, ist herzzerreissend komisch. Andere – sie sind in der Mehrheit – wählen eine dichte, bilderreiche, poetische Sprache, um sich dem Themenkomplex anzunähern.
Die Sprache wiederum, deren sich natürlich alle versammelten Autorinnen und Autoren als Schreibende zugehörig fühlen, wird häufig in den von Erna Pfeiffer in vertrautem Ton geführten Interviews zum Thema, wenn es etwa um die Grenzen zwischen Fiktion und Realität geht – viele der Textauszüge sind autobiographisch geprägt – oder um das jiddisch-hebräisch-spanische Sprachwirrwarr, in dem viele der Autoren erzogen worden sind und das sich auch in den Texten bisweilen niederschlägt. “Den Faden der Bedeutung finden”, wie es im Text von Alicia Dujovne Ortiz (*1939) heisst, das ist das Ziel manch einer dieser Erkundungen.
Viele jüdisch-argentinische Autorinnen und Autoren entstammen einer “zwischen vielen Nicht-Heimaten hin und hergeworfenen Migrantenfamilie” (Luisa Futoransky), sie befinden sich auf einer stetigen Reise, unterliegen bisweilen dem Irrtum, “zu glauben, der Exilierte würde zurückkehren” (Alicia Dujovne Ortiz), müssen sich arrangieren mit einem von Abstammung und Politik geprägten Leben unterwegs. Manche wie etwa Sara Rosenberg (*1954) oder Alicia Kozameh (*1953) wagten sich vor und während der argentinischen Militärdiktatur in den aktiven Widerstand und mussten dafür mit Gefängnisstrafen bezahlen. In Kozamehs Text steht: “Sich diesen Militärs entgegenzustellen heisst, gegen eine Wiederholung des Holocaust zu kämpfen.” Hier finden jüdische Herkunft und argentinische Wirklichkeit auf grausame Weise zusammen. Eine Grausamkeit, der sich nicht alle jüdisch-argentinischen Künstler stellen mussten oder wollten: vielen gelang es, rechtzeitig die Flucht zu ergreifen, im Exil abseits der Heimat oder Nicht-Heimat – häufig Venezuela, Frankreich oder die USA – weiterarbeiten zu können. Und auch zum Holocaust äussern sich bei weitem nicht alle, manche aber tun es, ganz explizit wie Kozameh oder verborgen hinter einer grossen Metapher wie Mario Goloboff (*1939) im grossartigen Text “Tauben. Schlag”
Dem kenntnisreich zusammengestellten Sammelband “Mit den Augen in der Hand” gelingt es, anhand repräsentativer Textauszüge ein Panorama jüdisch-argentinischen Literaturschaffens des 20. Jahrhunderts zu geben. Die Kurzportraits und Bibliographien der siebzehn Autorinnen und Autoren sind Hilfe bei Interesse an weitergehender Lektüre, obschon viele der Texte (noch) nicht in deutscher Fassung existieren. Daneben gestatten die Essays und die vielen Fussnoten auch Einblicke in jüdische und argentinische Geschichte und Geographie. Die Polyphonie dieser siebzehn Stimmen, die aufgrund gewisser gemeinsamer Grundvoraussetzungen doch immer wieder ähnliche Themen aufgreifen, ist faszinierend und erlaubt wertvolle Einblicke in ein literarisches Feld, das für den deutschen Sprachraum bislang noch nicht umfassend erschlossen ist.
Pfeiffer, Erna (Hg.) Mit den Augen in der Hand. Argentinische Jüdinnen und Juden erzählen. Wien: Mandelbaum 2014. 266 S., englische Broschur. 978385476-446-5