Rezension: Ein ganzes halbes Jahr - Jojo Moyes

Von Erdbeerliese
Normalerweise ist es gut, ein Buch nach dem Auslesen erstmal sacken zu lassen. Jetzt sitze ich allerdings hier, mit schwirrendem Kopf und frischen, feuchten Tränen in den Augen und kann nicht warten, meine Gedanken loszuwerden.
Es geht um Ein ganzes halbes Jahr von Jojo Moyes.

Das Buch dürfte ziemlich bekannt sein, treibt es sich doch schon seit einer Ewigkeit auf den Bestenlistenplätzen herum. Ich wollte es haben und lesen, weil ich das Cover schön fand und es nach einer netten Geschichte klang, weil alle meinten es sei toll und da ja etwas dran sein musste.
Ohne so richtig zu wissen, worum es in dem Buch geht, habe ich angefangen zu lesen. Ich wusste, dass es irgendwie eine Liebesgeschichte ist, in der sich die Protagonisten gegenseitig helfen, aus dem eigenen Schlamassel zu finden. Vielleicht hat mich die Geschichte auch deswegen so kalt erwischt.
Das Buch ist im März 2013 in Deutschland im Rowohlt Verlag erschienen, die englische Originalausgabe bereits 2012 mit dem Titel 'Me before you'. Der Preis liegt bei 14,99€.
InhaltEs ist die Geschichte von Lou und Will. Eine Liebesgeschichte, wie keine andere. Will Trynor, ein gutaussehender, erfolgreicher, charismatrischer, priviligierter junger Mann landet im Rollstuhl. Querschnittsgelähmt vom Hals abwärts. Lou Clark, eine junge Frau die mit ihrer Schwester und deren kleinen Sohn noch bei ihren Eltern in einer langweiligen, englischen Kleinstadt lebt, verliert ihren Job in einem Café. Da die ganze Familie nicht gerade wohlhabend ist, braucht sie dringend eine neue Arbeit, was allerdings ohne Ausbildung auf dem derzeitigen Arbeitsmarkt nicht einfach ist. Nach ein paar sinnlosen Versuchen in einer Hühnerfabrik, bei einer Fast Food Kette und anderen Schwierigkeiten, nimmt sie widerwillig und gezwungenermaßen eine Stelle als Pflegekraft für einen Tetraplegiker an, der überdurchschnittlich gut bezahlt wird. Was sie nicht weiß: es ist Will, der seinen Lebenswillen verloren hat und sich von der Welt abschottet. Lou hat einen Vertrag über ein halbes Jahr erhalten, in dem sie sich um Will kümmern soll. Allerdings eher um die geistigen Belange, denn für die körperliche Pflege gibt es Nathan, Lou soll versuchen ihre unkonventionelle, fröhlichen Art auf Will überschwappen zu lassen. Den eigentlichen Grund der Anstellung erfährt sie allerdings erst zufällig - und der verschlägt ihr die Sprache.
Meine MeinungIch bin wie gesagt ziemlich unbeleckt an dieses Buch gegangen ohne zu wissen, worum es wirklich geht. Lou ist 27 und eine sypathische, etwas chaotische junge Frau, ein durchaus toller Charakter, mit dem man sich beim Lesen sofort anfreundet. Sie unterstützt ihre Familie, stellt sich dabei aber selbst immer etwas unter den Scheffel. Will lernt man zu Beginn des Buches kurz kennen und erkennt ihn kaum wieder, als man ihn das erste Mal im Rollstuhl begegnet. Anfangs, getrieben von Erfolg und Ehrgeiz, scheint er ein eher unsympathischer Mensch zu sein, der jemanden wie Lou nie in sein Leben gelassen hätte, da beide aus komplett verschiedenen Welten stammen. Nach dem Unfall ist er gebrochen, zynisch und abweisend, was man im Laufe des Buches aber immer besser zu verstehen lernt. Jojo Moyes versteht es, den Leser mit in diese Welt zu nehmen, aufzuzeigen, wie das Leben eines Tetraplegikers ist, welche Schwierigkeiten auftauchen, wie viel Leid und Schmerz dieser Mensch nicht nur körperlich ertragen muss. Auf der anderen Seite weiß man, da ist Louisa. Dieses lebenslustige Mädchen mit ihrem verrückten Kleidungsstil und man hofft einfach so sehr darauf, dass sie Will mit ihrer Einstellung anstecken kann. 
Für Lou wird die Arbeit mit Will, die ihr anfänglich so schwer fiel, schneller zur Gewohnheit, als sie gedacht hätte. Sie gewöhnt sich an den Menschen, der auf sie angewiesen ist und beide entwickeln eine Vertrautheit, die mich als Leser sehr berührt. Auch wenn es immer wieder Tage und Situationen gibt, an denen Will sich abkapselt, merkt man trotzdem, wie wichtig sich die Protagonisten gegenseitig werden und wie sehr sie sich beeinflussen. Will genießt es, Lou aufzuziehen, mit ihr Streitgespräche anzufangen und Lou fängt an, seine zynische Art zu mögen. Nicht selten musste ich einen Lacher unterdrücken oder einfach mal losprusten, weil eine Situation komisch, oder ein Gespräch so unterhaltsam war. 
Während der Arbeit für Will wird Lousia klar, wie belanglos die Beziehung zu ihrem Freund Patrick ist, denn alles was ihn interessiert ist sein Sport, Marathonläufe und meilenweite Radtouren. So paradox es klingen mag, dass ein Mann im Rollstuhl einem Mädchen die Welt zeigt und ihren Horizont erweitert, so ist es doch die Wahrheit. Will bringt Lou dazu, Dinge zu tun, die sie nie getan hätte. Es ist schwer, hier zu schreiben, ohne die Hälfte des Buches vorweg zu nehmen, aber Fakt ist, dass Lou sechs Monate Zeit bleiben, um Will davon zu überzeugen, dass sein Leben nicht wertlos ist, auch wenn er im Rollstuhl sitzt und es nie wieder so sein wird, wie es einmal war. Und sie versucht mit aller Kraft, ihn davon zu überzeugen. Als Leser hofft man so sehr mit Lou, dass sie es schafft. Aber an einem gewissen Punkt war mir dann klar, dass das Buch kein Happy End haben wird. Das Buch ist so unglaublich schön geschrieben, so liebevoll. Diese winzigen, kleinen Situationen die zeigen, wie viel sich die beiden bedeuten. Diese winzig kleinen Situationen die zeigen, dass da tatsächlich Liebe ist, die über eine Freundschaft, oder gar ein Arbeitsverhältnis weithinaus gehen. Wie sehr hofft man als Leser, dass die beiden für immer und ewig glücklich zusammensein werden. Man hofft bis zum Schluss. 
Das Buch handelt von einem eigenbestimmten Leben, oder viel mehr einem eigenbestimmten Tod. Von betreuter Sterbehilfe. Und obwohl Will die Zeit mit Lou genießt, all die Dinge, die sie ihm zeigt, so kann man als Leser doch nachvollziehen, warum er seine Entscheidung längst gefällt hat. Lou ist so stark, sie ist ein so bewundernswerter Charakter, der Will am Ende nur eines schuldig ist und geben kann: seine Eigenbestimmtheit, die Chance, eine eigene Entscheidung zu treffen. Menschen im Rollstuhl haben keine Bestimmung mehr über sich und ihren Körper, werden bevormundet, dürfen nichts entscheiden, selbst wenn sie bei klarem Verstand sind. Alles wird geplant, bis ins kleinste Detail und ich persönlich kann Wills Entscheidung absolut nachvollziehen. Er war ein vitaler, aktiver Mann, der die Welt bereist und das Leben genossen hat und jetzt kann er nichts mehr von alledem. Ich möchte um nichts in der Welt mit ihm tauschen und weiß nicht, ob ich ein fremdbestimmtes Leben im Rollstuhl ertragen würde. Ob ich es ertragen würde, auf andere angewiesen zu sein, die mich füttern, die mich waschen, die mir die Katheter wechseln müssen. Es ist nicht nur beschämend, es ist am Ende einfach nur unter jeglicher menschlicher Würde. So wäre es zumindest für mich und ich bewundere wirklich jeden Menschen, der in so einer Situation Lebenswillen und Lebensmut hat. 
Trotzdem ergänzen sich die beiden und dieses halbe Jahr wird die schönste Zeit in derer beider Leben. Sie vertrauen sich Dinge an, die sie sonst niemandem erzählen und es entstehen Situationen, in denen man als Leser das Knistern nahezu spürt. Es ist ein unglaublich schönes Buch über Vertrauen, Freundschaft und Liebe basierend auf so einer ernsthaften Thematik wie Sterbehilfe. Es hat mich vom ersten Moment an gefesselt und mich in seinen Bann gezogen. Ich liebe die Charaktere, nicht nur Lou und Will, sondern auch Nathan, der als Freund und Pfleger für Will eine wichtige Rolle spielt und Louisa in ihrem Vorhaben so gut es geht unterstützt. Auch Lous Schwester Treena, die trotz Streitereien für Lou da ist und sie aufbaut, Lous überfürsorgliche Mutter und auch ihren Vater. Ja selbst Camilla, die Mutter von Will, ein starker Charakter, obwohl sie eine Entscheidung treffen muss, für die sie wohl die meisten Menschen verurteilen würden. Aber die Standpunkte der verschiedenen Personen werden einfach dadurch treffend beschrieben, dass allen einzelnen Protagonisten ein Kapitel gewidmet ist, in dem der Leser ihre Sicht der Dinge erfährt. Ich kann an diesem Buch absolut nichts kritisieren. Natürlich hätte ich mir ein glückliches Ende gewünscht, aber so ist das Leben nicht. Es ist, wie es ist.
Das Buch bekommt von mir 5 volle Erdbeeren für all die vollgerotzen Taschentücher, für eine unglaublich bewegende, fesselnde Geschichte, die mich trotz des Hintergrunds oft zum Lachen gebracht hat.
Liebe Grüße
Erdbeerliese