Mit “Der Walfisch” erscheint bei Nagel & Kimche zum dritten Mal ein Roman aus dem umfangreichen Werk des spanischen Autors Eduardo Mendoza. Wobei die Gattungsbezeichnung in diesem Fall etwas weit greift: “Der Walfisch” ist eine kurze Charakter- und Stadtstudie mit nachdenklichen Untertönen, ein vergnüglicher Grenzgang zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen.
Barcelona, 1952: Der anstehende Eucharistische Weltkongress versetzt die Stadt in Volksfeststimmung. Ein Dutzend neue Hotels wurden aus dem Boden gestampft, der Flughafen El Prat gebaut, ganze Stadtquartiere renoviert und aufgefrischt. Weil sich die Stadt aber dennoch nicht in der Lage sieht, allen Kongressteilnehmern adäquate Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, setzt die Regierung auf die Gastfreundschaft ihrer Bewohner.
So kommt der zentralamerikanische Bischof Fulgencio Putucás bei Tante Conchita und Onkel Agustin unter, Verwandten des Ich-Erzählers, der die Zeit des Kongresses als das Ende seiner Kindheit bezeichnet. Conchita ist das selbsternannte Oberhaupt einer aus vielen skurrilen Charakteren bestehenden Familie, in deren Kreis die Tante kaum jemanden vorlässt. Dem Bischof gewährt sie aus vorgeblicher Grosszügigkeit und frommer Menschenliebe für die Tage des Kongresses Zuflucht. In dieser Zeit aber bricht in Putucás’ Heimat eine Revolution aus, der Bischof steht auf einer Schwarzen Liste der neuen Regierung und kann nicht mehr nach Hause.
Conchita, deren Grosszügigkeit und fromme Menschenliebe nicht über die Kongresstage hinausreicht, schiebt den Bischof in die Familie des Ich-Erzählers ab, wo er vorerst Unterschlupf findet. Er legt seine kirchliche Tracht ab, wird von nun an Fulgencio genannt, hilft im Haushalt und wird zum Begleiter des jungen Erzählers, später dann zum Saufkumpanen von dessen alkoholabhängigem Vater. Er wird ausfällig, gewalttätig. Schliesslich verschwindet er spurlos. In buchstäblichem und übertragenem Sinne legt Fulgencio seine Würde ab, aus seiner Vertretung des Göttlichen steigt er hinab in die Sphären des Allzumenschlichen.
Erst Jahre später kommt es zum Wiedersehen: Im Hafen Barcelonas wird ein toter Wal ausgestellt, im Zelt, wo es nach verwesendem Fleisch und Reinigungsmittel stinkt, finden sich der Ich-Erzähler und der heruntergekommene Würdenträger in der Betrachtung des gewaltigen Tiers wieder. Fulgencio ist voller Selbstmitleid, zieht Parallelen zwischen sich und dem Wal, er spielt den Hiob, dem Gott den “Weg mit Widrigkeiten und Schmach übersät” hat, um ihn zu prüfen.
Eduardo Mendoza (*1943), der in unserem Sprachgebiet insbesondere durch seinen grossen Barcelona-Roman “Die Stadt der Wunder” (1992) bekannt ist, hat mit “Der Walfisch” eine subtile kleine Charakter- und Stadtstudie vorgelegt. Ursprünglich erschien die Erzählung gemeinsam mit zwei weiteren im Band “Tres vidas de santos” (Drei Heiligenleben, 2009), worin sie wohl auch etwas besser kontextualisiert wäre. Nichtsdestotrotz besteht “Der Walfisch” aber auch für sich alleine stehend. Mendoza gestaltet die Familie des Erzählers geradezu als ein Kabinett der grotesken Charaktere, seine Affinität für komische Elemente schimmert stets durch – und doch schwingen auch nachdenkliche Untertöne mit: Der Niedergang des mit Blendwerk behangenen Bischofs lässt nicht kalt, Fulgencio bleibt aber auch eine ambivalente Figur, die sich zunehmend verdächtig macht, selbst nicht gerade ein Hort frommer Unschuld zu sein. Während Fulgencios Grenzgang zwischen Göttlichem und Menschlichem gescheitert scheint, gelingt derjenige des Autors zwischen Tragik und Komik hervorragend, im Mantel eines bisweilen leicht altklugen Erzählers führt er leichtfüssig und stilistisch souverän durch die Geschichte. Eine vergnügliche Lektüre!
Mendoza, Eduardo. Der Walfisch. Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold. Zürich: Nagel & Kimche 2015. 128 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-312-00646-5