Rezension: Dominique Anne Schuetz – Von einem der auszog, die Welt zu verschieben (europa 2015)

Die Schweizer Autorin Dominique Anne Schuetz legt mit “Von einem der auszog, die Welt zu verschieben” ihren mittlerweile vierten Roman vor. Er handelt von Menschen, die – jeder auf seine Weise – aus ihrem beengenden Dasein auszubrechen suchen, im übertragenen wie im ganz konkret topographischen Sinne. Präzise recherchierte historische Fakten und unterschiedliche Charakterstudien fügen sich zu einem Stimmungsbild der jungen, enthusiastischen Vereinigten Staaten in den 1880er-Jahren. Das ist mal tiefsinnige, mal leichte Unterhaltung – insgesamt vielleicht etwas zu leicht?
usa

Im Zentrum der Erzählung, die im Jahr 1888 beginnt, stehen zwei mitteleuropäische Männer. Zunächst ist das der St. Galler Buchhalter Ferdinand Ulrich, der als Kind Matrose hatte werden wollen, seinem konservativen Familienumfeld aber nicht entfliehen konnte und deshalb Recht studierte. Seine Mutter, sein Bruder – der in der St. Galler Stiftsbibliothek arbeitet – und seine Verlobte Johanna können sich ein Leben ausserhalb der beschaulichen Ostschweizer Stadt kaum vorstellen. Eines Tages packt Ferdinand das Fernweh – er schmeisst alles hin und bricht auf.

Zur gleichen Zeit wird in München der Geigenbauer Aloysius Brandl, der “weder Sinn fürs Geschäftliche noch für die Realität” besitzt, aus dem Gefängnis entlassen, wo er wegen eines Violinendiebstahls einsitzen musste. Ein skurriler Zufall lässt ihn, den vollkommen Perspektivenlosen, unverhofft wieder zu Geld kommen, welches er denn auch sogleich einsetzt, um wegzugehen. Nach Bremerhaven, wo die Dampfer in Richtung Amerika auslaufen.

Um an eine Fahrkarte zu kommen, macht er ein Versprechen: er soll das kleine ungarische Mädchen Janka, dessen Grossvater die Strapazen der Reise nach Deutschland nicht überlebt hat, bei seinen Verwandten im Dorf Ulysses, Kansas, abliefern. Und so beginnt die Odyssee dieses ungleichen Paares.

Es ist diese Ortschaft im Herzen der USA, wo es letztlich auch zur dramaturgisch natürlich unvermeidlichen Bekanntschaft zwischen Aloysius und Ferdinand kommt. Die (tatsächliche) faszinierende Geschichte von Ulysses, Kansas, bildet den Rahmen dieses Romans, dem Dominique Anne Schütz ihre Charaktere einschreibt, sie – zumindest Ferdinand – zu entscheidenden Figuren für das Schicksal des Ortes macht.

Der Roman ist in vier Teile unterteilt, wovon die ersten beiden, die Aufbruch und Reise der beiden Protagonisten bis und mit ihres ersten Aufenthalts in Ulysses erzählen, den grössten Teil ausmachen. Ein kurzes Intermezzo von gerade einmal vierzig Seiten schildert dann “Die vielen Jahre dazwischen”, das heisst konkret zwanzig Jahre, während derer Ferdinand und Aloysius wieder ihre eigenen Wege gehen, der eine zurückkehrt nach München, um Instrumente zu bauen, der andere die ganze Welt bereist. Und erst im letzten Teil, der ebenfalls nur achtzig Seiten ausmacht, kommt es zur Erzählung der eigentlich unerhörten Begebenheit dieser Geschichte: der buchstäblichen Verschiebung des über alle Massen verschuldeten Dorfes Ulysses einige Meilen hinaus in die Prärie.

Die historischen Tatsachen im Buch sind präzise recherchiert und subtil in die Geschichte eingearbeitet, so dass ein durchaus auch sinnlich erfahrbares Stimmungsbild der Zeit entsteht. Die Charakterstudien der Figuren, die alle irgendwie bestrebt sind Einengungen ihres Lebens zu entfliehen – manche mit mehr, manche mit weniger Mut – sind stellenweise tiefsinnig, stellenweise aber auch etwas gar oberflächlich. Gerade der letzte Teil des Buches, der allzu offensichtlich auf ein versöhnliches Ende angelegt ist, übergeht die eigentlichen Probleme zu oft. Die Sorgen und Nöte eines Dorfes, das so sehr verschuldet ist, dass es sich gezwungen sieht, die gesamte Ansiedlung in einer mühseligen Prozedur in die Prärie hinaus zu verschieben, um der Pleite zu entgehen, das Psychogramm einer Dorfgemeinschaft am Abgrund, die sich allen Widerständen zum Trotz aufrafft und das Unmögliche möglich zu machen versucht: das literarische Potenzial, das darin steckt, wird von der Autorin leider nicht vollständig ausgeschöpft.

Diese Kritik soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass “Von einem der auszog, die Welt zu verschieben” ein sprachlich souveräner, jederzeit unterhaltsamer, humorvoller und historisch anregender Roman ist, dessen Lektüre lohnt.

Schuetz, Dominique Anne. Von einem der auszog, die Welt zu verschieben. Zürich: europa verlag 2015. 320 S., gebunden m. Schutzumschlag. ISBN 978-3-906272-36-8.


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