Rezension: Diego Marani – Neue finnische Grammatik (Graf 2014 [2000])

Erstmals liegt Diego Maranis preisgekrönter Roman “Nuova grammatica finlandese” (2000) in einer deutschen Fassung vor. Erzählt wird die Odyssee eines Soldaten im Zweiten Weltkrieg, der nach einem Überfall ohne Erinnerung und ohne Sprache aus dem Koma erwacht und von einem finnischen Arzt auf die Reise in seine angebliche Heimat geschickt wird…

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Triest 1943: Ein Mann mit schweren Kopfverletzungen wird an Bord des Lazarettschiffes “Tübingen” gebracht und der Pflege des finnischstämmigen Arztes Petri Friari anvertraut. Der Patient trägt eine Uniform mit der Aufschrift “Sampo Karjalainen”, in der Jackentasche findet sich ein Taschentuch mit den Initialen S.K. Für den Arzt, den selbst ein gespaltenes Verhältnis zu seiner Heimat quält, Indizien genug, ‘Sampo’ für einen Landsmann zu halten.

Als der Doktor bemerkt, dass dem traumatisierten Patienten jegliche Erinnerungen und die Sprache abhanden gekommen sind, beginnt er, ihm die finnische Sprache beizubringen. Er hegt und pflegt den Patienten wie ein seltenes Tier, das in der Wildnis ausgesetzt werden soll. Kurz darauf bringt er den hilflosen Sampo auf die Reise nach Helsinki, wo er in einem Militärhospital unterkommen soll bis sich ihm die Spuren seiner Vergangenheit wieder offenbart hätten.

Erzählt wird die Geschichte zu grossen Teilen von einem Manuskript des ‘Sampo Karjalainen’, welches dem reuigen Arzt Petri Friari nach dem Tod seines ehemaligen Patienten in die Hände fiel. Der Arzt selbst, so die Fiktion, hat die lückenhaften Sätze verdichtet und unterbricht das Manuskript bisweilen mit Passagen aus der eigenen Feder.

Im Militärhospital in Helsinki angekommen wird Sampo schnell klar, dass die Wirren des Krieges den Angestellten weder die Zeit noch die Lust lassen, sich um einen identitätslosen Mann auf der Suche nach seiner eigenen Vergangenheit zu kümmern. Nur der Militärpastor Olof Koskela nimmt sich seiner an, er wird zu Sampos einzigem Freund. Abend für Abend sitzen sie bei einer Flasche Koskenkorva in der Sakristei beisammen und Koskela erzählt Sampo von den Feinheiten und Tiefen der finnischen Sprache und ihrer Geschichte. Er liest die Geschichten der Kalevala, berichtet vom “endlosen Kampf gegen die Russen” und von Marschall Mannerheim, dem Helden des weissen Finnlands im Bürgerkrieg 1918, dessen Worte für ihn “gleich nach denen der Bibel” kommen. Vor allem aber spricht er über die finnische Sprache- poetisch, einfühlsam und voller Liebe:

“Das Finnische hat eine widerborstige, aber feinfühlige Syntax: Anstatt vom Zentrum der Dinge auszugehen, hüllt sie diese vielmehr von aussen ein. Am Ende ist der finnische Satz ja wie ein undurchdringlicher, in sich geschlossener Kokon, wo die Bedeutung langsam heranreift und dann mit einem Mal farbenreich und ungreifbar davonfliegt und dabei jene, welche mit unserer Sprache nicht vertraut sind, immer mit dem Gefühl zurücklässt, nichts verstanden zu haben.”

Sampo beginnt zu verstehen – ohne aber zu wissen, wer er ist, hilft ihm auch das Verständnis der Sprache nicht viel. Er ist unglücklich, fühlt sich nicht zugehörig. Neben Pastor Koskela ist es einzig die zärtliche Krankenschwester Ilma, mit der ihn etwas verbindet. Im Gegensatz zu Sampo fehlt es ihr an der Gegenwart, sie klammert sich an ihre Erinnerungen, ist deren Gefangener und sieht in Sampo einen Mann, dem die Freiheit geschenkt wurde.

“Ohne einen anderen Menschen an unserer Seite, der uns beim Leben zuschaut, sind wir so gut wie tot, und dann dient es auch zu nichts, die Vergangeheit zu plündern, in der Illusion, ihr ihre Schätze entreissen zu können.”

Der Krieg reisst Sampo und Ilma schnell wieder auseinander – ein weiterer Schritt in Sampos Geschichte der Abwesenheiten. Danach gefragt, welcher der fünfzehn Fälle des Finnischen ihm am besten gefalle, sagt er: der Abessiv, der Fall, der das Nicht-Vorhandensein von etwas bezeichnet. Eine Aussage, die programmatisch ist für die gesamte Odyssee des Sampo Karjalainen…

“Das Schicksal der finnischen Helden (…) ist brutal. Aus grossen Kriegern macht es einfache Schäfer, die ihre Strafe bis zum letzten Tag abbüssen müssen.”

 

Diego Marani (*1959) ist mit “Neue finnische Grammatik” ein berührender Roman gelungen, dessen Geschichte trotz ihrer Einfachheit stets fesselnd bleibt. Bisweilen wirkt die Sprache etwas poetisch überfrachtet, was jedoch keinesfalls als Mangel des Stils abgetan werden sollte, sondern sich aus den Quellen ergibt, aus denen Sampo seine Sprache schöpft: die Bibel, Mythen, Liebesbriefe. Marani, der als Übersetzer für die Europäische Kommission in Brüssel arbeitet, ist einer, der die Finessen der Sprache kennt, sie zu sezieren und mit ihnen zu spielen weiss. Vor einiger Zeit erlangte er gar kleine Berühmtheit damit, eine Kunstsprache zur europäischen Verständigung – Europanto - entwickelt zu haben. Obschon er diese als Scherz bezeichnet hat, hat er auch eine Erzählungssammlung in Europanto verfasst (“Las adventures de l’inspector Cabillot”). Die Liebe zur Sprache ist auch in “Neue finnische Grammatik” als erster Beweggrund in jeder Zeile spürbar und verleiht dem Text einen Reiz, der über die eigentliche Geschichte des geschichtslosen Soldaten hinausgeht.  Eine souverän erzählte, berührende Geschichte, die zurücklässt: Ergriffenheit, Respekt und den Wunsch, finnisch zu lernen. 

Marani, Diego. Neue finnische Grammatik. Aus dem Italienischen von Helmut Moysich. Berlin: Graf 2014. 256 S., ISBN 978-3-86220-041-2


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