|Rezension| "Die Nacht gehört dem Drachen" von Alexia Casale

Von Paperdreams @xGoldmarie


   
Ich steige auf, zur Oberfläche.
Als die vierzehnjährige Evie ihren Adoptiveltern endlich von ihrer gebrochenen Rippe erzählt, können die Ärzte das zerstörte Stück Knochen nur noch herausoperieren. Zusammen mit ihrem Onkel Ben schnitzt sie einen Drachen aus diesem, der als ihr Glücksbringer und als Symbol der Stärke dienen soll. Denn noch ist die schlimme Zeit für Evie nicht vorbei - die ständigen Schmerzen, die Erinnerungen an ihre Vergangenheit und was tun ihr Onkel Ben und ihr Stiefvater Paul in den dunklen Nächten draußen? Evie weiß nur eins: Sie will vergessen und sie will, dass ihr Knochendrache lebendig wird - und das obwohl Wünsche kindisch sind. Doch dieser Wunsch scheint in Erfüllung zu gehen, denn in den Nächten redet der Drache mit ihr und unternimmt kleine Ausflüge. Doch kann ihr der Drache auch die Gerechtigkeit geben, die sie verdient?
Mit sprachlicher Leichtigkeit verscheucht Alexia Casale die Schwere ihrer Thematik und erschafft einen warmen und metaphorischen Roman, der sich wie ein Schwamm immer mehr mit Fragen und Gedanken vollsaugt. Intelligente Gedankengänge und eine Ruhe, wie man sie selten erlebt - das strahlt "Die Nacht gehört dem Drachen" zu jedem Zeitpunkt aus, auch dann noch, wenn es mal sehr schockierend und tiefgründig wird. Philosophisch, jugendlich und dabei mit einem durchgehend angenehm lesbaren Niveau erzählt Casale eine berührende Geschichte, die nicht zuletzt durch ihren sanften und einfühlsamen Schreibstil genau dort trifft, wo er treffen soll.
Manchmal sind es die stummen, ungesagten Dinge, die lauter im Kopf nachhallen, als jedes gesagte Wort. Ja, die Dinge, die nicht beim Namen genannt werden, bleiben einem manchmal am längsten in Erinnerung. Das ist widersprüchlich? Natürlich, aber irgendwie auch überhaupt nicht. "Die Nacht gehört dem Drachen" ist eine solche Geschichte, die im Schatten lebt und von ungesagten Taten erzählt. Dadurch ist die Geschichte für Interpretationen und verschiedene Sichtweisen geradezu prädestiniert und lässt dem Leser die Möglichkeit selbst zu entscheiden. "Die Nacht gehört dem Drachen" ist aber weitaus mehr, als ungesagte Worte - es ist vielmehr eine einfühlsame Geschichte über Missbrauch, die sich mit Widerhaken ins Leserherz bohrt und es gleichzeitig zu erwärmen weiß. Ständig stößt man auf die Widersprüchlichkeit der Gefühle, findet sich eingehüllt in den Schleier des Nichtwissens, der auf den ersten Blick ein Fluch - auf den zweiten Blick jedoch ein Segen ist.
Das Buch erzählt dabei eine ruhige, unaufdringliche, dafür aber eindringliche Geschichte. Das Motto "Stille Wasser sind tief" trifft wohl uneingeschränkt auf "Die Nacht gehört dem Drachen", denn die Geschichte schlägt trotz der ruhigen Erzählweise und dem auf Emotionen angelegten Plot hohe Wellen. So beschäftigt sie sich mit sensiblen Themen wie Kindesmissbrauch, Verlust und der Angst vor dem Leben - und das auf eine ganz außergewöhnliche Art und Weise. Ja, "Die Nacht gehört dem Drachen" ist prinzipiell einfach anders. Nicht nur, was das Genre (eine Mischung aus Psychologie und Phantasie) und den Inhalt angeht, sondern auch die Struktur ist anders: es gibt keine Kapitel, nur Absätze - ansonsten ist die Geschichte ein Fließtext, der einem unterschwellig immer wieder ins Ohr haucht, dass es trotz allem weitergeht.

Gerade durch die Protagonistin Evie erhält die Geschichte Lebhaftigkeit und Wärme, was widersprüchlich ist, wenn man bedenkt, wie distanziert sie ist und wie wenig sie über ihre Vergangenheit verrät. Trotz der Distanz, die sie durch das Verschweigen ihres Schicksals aufbaut, hat man als Leser selbst kaum das Gefühl gehabt, Evie nicht nahe kommen zu können - ganz im Gegenteil. Sie ist eine unglaublich bewegende Figur, in die man schwer hineinschauen kann und die viel von ihren Gedanken unbewusst durch den Drachen an den Leser überträgt. Ihr Mut und ihr
Lebenswille, den sie trotz allem irgendwie aufrecht erhalten kann, ist faszinierend, ja beeindruckend. Doch auch die anderen Figuren sind liebevoll und plastisch gezeichnet, man schließt sie einfach alle ins Herz - gerade auch wegen ihrem Umgang mit Evie. Allesamt sind sie eigenständig und haben einen bestimmten Wiedererkennungswert inne, der es mir letztlich sehr schwer machte, von ihnen loszukommen.
Was "Die Nacht gehört dem Drachen" so besonders macht, ist diese Unförmigkeit - die Geschichte erzählt nichts perfektes, sie IST nicht einmal perfekt, hat Hügel und Täler und ist gerade deswegen so authentisch und glaubwürdig. Der psychologisch-phantastische Aspekt mit dem Drachen überzeugt ebenfalls auf ganzer Linie und weiß gerade zum Ende hin sehr zu überraschen - vielleicht sogar zu schockieren. So oder so löst die Geschichte bei der einen Hälfte Leser das unglaubliche Verlangen aus, wirklich zu wissen, was geschehen ist, während die andere Hälfte es tatsächlich gar nicht wissen möchte - zu schrecklich sind die Konsequenzen, die Folgen. Manche Handlungsstränge jedoch hätte man gerne noch weiter ausführen können, wie beispielsweise die Geschichte von Sonny Rawlings. Wie interessant wäre es gewesen, wenn Sonny und Evie sich näher gekommen wären, so aber verliert sich der Strang vollends, was aber auf Grund von Evies Situation dann doch wieder verständlich war.
In dieser Geschichte gehört die Nacht dem Drachen und dieses Buch gehört in jedes Bücherregal. Sie beschäftigt sich derart authentisch und außergewöhnlich mit einer höchst sensiblen Thematik, dass man sich der Geschichte kaum entziehen kann. Dabei gerät man nicht nur mit sich selbst in einen Konflikt - durch die Schwammigkeit der Geschehnisse - sondern prinzipiell mit jeder Figur des Buches. Die Charaktere sind unglaublich plastisch und dreidimensional und sind so warmherzig, dass man sich oft nur zu Hause fühlen kann. Ansonsten ist die Geschichte vollgestopft mit Problemen jeder Art - wie ein Glas bei dem an den Deckel nicht mehr zu bekommt - und dennoch ist sie nicht nur frustrierend, sondern zeigt auch die Schönheit des Lebens. Stille Wasser sind tief - das trifft auf "Die Nacht gehört dem Drachen" definitiv zu und deswegen sollte man dieses Buch gelesen haben!

Alexia Casale hat u.a. Psychologie und Politikwissenschaft in Cambridge, England, studiert und danach in New York bei einer Broadway Show sowie als  Drehbuchkritikerin gearbeitet, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Heute lebt die Autorin mit den italienischen Wurzeln wieder in England und unterrichtet Literatur. Casale liebt Katzen, sammelt Glastiere und interessant Messer - außerdem wollte sie schon immer mal einen Drachen haben. "Die Nacht gehört dem Drachen" ist ihr erster Roman. [via Carlsen]
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