Scarlet steuerte gerade die Gasse hinter dem Gasthaus Rieux an, als ihr Portscreen auf dem Beifahrersitz summte und eine Computerstimme meldete: "Tele für Mademoiselle Scarlet Benoit von der Dienststelle für Vermisste Personen."
Seit zwei ganzen Wochen wird Scarlet Benoits Großmutter Michelle nun schon vermisst. Nichts als ihren ID-Chip hat sie hinterlassen und ist somit für jeden unsichtbar geworden. Während die Polizei davon ausgeht, dass die alte Dame abgehauen ist, kann Scarlet diese Version einfach nicht glauben - schließlich würde Michelle nie ein Geheimnis vor ihr haben. Als sie dann auf den mysteriösen Straßenkämpfer Wolf trifft, der so ganz anders ist und nicht weiß, was Tomaten sind, beschließen die beiden sich auf die Suche nach Michelle zu machen, obwohl Scarlet sich nicht sicher ist, ob sie Wolf trauen kann. Seine Unwissenheit und seine animalische Seite machen sie nervös und dann ist da auch noch die aus dem Gefängnis entflohene Linh Cinder, die überall gesucht wird.
Marissa Meyers Schreibstil hüllt einen ein, wie Rotkäppchens Cape. Warm, auffällig und knallig, so tanzen ihre Worte ständig um den Leser herum, ohne große Einleitung. Ja, man wird wie gewohnt ins Geschehen geschubst und muss sich erst einmal zurecht finden - was bei mir dieses Mal allerdings einige Seiten länger dauerte. Dennoch schafft Meyer es schnell, dass diese so ungewohnte Welt ganz normal und alltäglich wirkt, ohne dass es langweilig wird. Simpel und faszinierend kommen ihre Worte daher, denn einerseits ist ihr Stil auffallend jugendlich und ohne viele Schnörkel gehalten, andererseits hat er das auch gar nicht nötig, gibt es doch so viele Begriffe und Worte, an die man sich gewöhnen muss, dass es auf jede andere Art und Weise sicher überladen gewirkt hätte. So ist Meyers Schreibstil eine angenehme Mischung aus einem flüssig lesbaren Stil mit kurzen und prägnanten Sätzen und einer dichten Atmosphäre, der den Leser auf Reisen schickt.
Es gibt Ideen, die sind genial wie simpel. Sie sind so offensichtlich, dass man selbst wahrscheinlich nie darauf kommen würde und so innovativ und faszinierend, dass man ihnen völlig verfällt - die Reihe um die Luna Chroniken von Marissa Meyer ist ein solches Beispiel: man nehme ein Märchen, schüttele es drei Mal, verfrachte es in die Zukunft und heraus kommt ein futuristisches Jugendbuch mit Märchenelementen und dem Charme einer Fantasygeschichte. So überzeugt auch der zweite Band der Luna Chroniken, der an das Märchen "Rotkäppchen" angelehnt ist - und wenn ich angelehnt schreibe, dann meine ich tatsächlich nur angelehnt: ein kleiner, fast winziger Berührungspunkt, der aber derart gut und erfrischend umgesetzt wurde, dass er in jeder Minute und auf jeder Seite Spaß macht. Mehr als einen roten Kapuzenpullover, eine Großmutter und einen etwas wölfischen Typen haben das Urmärchen und "Wie Blut so rot" nämlich nicht gemeinsam und dennoch erinnert die Geschichte auf eine so schöne Weise an das Märchen, dass man sich seinem Charme kaum entziehen kann.
Eins der Dinge, die Meyers Reihe (bisher) so faszinierend gemacht hat, ist nämlich genau dieser Punkt: Etwas Altes neu tapezieren, aber so, dass die alte Tapete noch leicht durchschimmert. Dieses Talent kann man Meyer nicht absprechen, auch wenn die ersten Seiten des Buches etwas dahinschleichen und es mir merklich schwerer fiel, wieder in die Geschichte einzutauchen. Vielleicht liegt es daran, dass "Wie Blut so rot" noch mehr neue Perspektiven hat und nun mehr zwei Handlungsstränge erzählt: die Geschichte von Scarlet Benoit und natürlich Cinders beschwerlichen Weg. Wie selbstverständlich die beiden Geschichten immer wieder überlappen und ineinander übergehen hat dafür gesorgt, dass alles noch viel authentischer und dreidimensionaler wirkte. Cinders Geschichte geht weiter, eine andere beginnt und irgendwann finden sie zusammen, weil sie zusammen gehören. Und wieder: simpel. Aber so genial.
So bekommt man in "Wie Blut so rot" neben mehreren Perspektiven natürlich auch eine ganze Ladung neuer Figuren um die Ohren gehauen - was einerseits ganz schön faszinierend und spannend, andererseits aber auch manchmal etwas anstrengend ist. Dennoch hatte jede Figur ihre Reize und irgendwann wollte ich bei jedem wissen, wie es weitergeht. Scarlet ist ebenso tough wie Cinder (die mir zwischendurch wirklich sehr Leid tat), wenn auch viel schutzbedürftiger. Sie weiß sich zwar zu helfen, kommt aber das ein oder andere Mal aus bestimmte Gründen nicht weiter. Meine ganze Sympathie hatte sie aber trotzdem - genau wie Wolf, der etwas Ursprüngliches und zeitweise fast Kindisches hatte, was mir besonders gut gefallen hat. Er ist gleichzeitig verletzlich und gefährlich - und diese Eigenschaften haben ganz besondere Gründe, die man aber natürlich selbst herausfinden
muss (obwohl sie relativ offensichtlich sind). Hier finde ich aber wieder die Übergänge sehr gelungen, denn irgendwie gehört alles zusammen und das macht dieses Buch so rund. Auch Nebenfiguren, wie beispielsweise Kapitän Thorne, der einfach zu witzig und cool ist, rücken immer mehr in den Vordergrund und geben der Geschichte das gewisse Etwas.
Gewürzt wird das Ganze wieder mit dem futuristischen Touch und den politischen Intrigen. Außerdem stapeln sich wieder allerhand Geheimnisse, die es zu lösen und einige Entdeckungen, die es zu machen gilt. Fragen aus dem ersten Teil werden beantwortet, neue Fragen tun sich auf und auch einige moralische Ansätze, wenn auch minimal gehalten, findet man in "Wie Blut so rot". Die Geschichte ist nach den kleinen Einstiegsschwierigkeiten unschlagbar spannend und hat mich zeitweise einfach nicht mehr loslassen können. An jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken, zu belauschen oder zu wissen, die Geschichte ist witzig und gleichzeitig traurig, spannend und faszinierend und bietet einfach eine große Palette an verschiedenen Elementen, die eine Geschichte braucht, um grandios zu sein.
Auch wenn Rotkäppchen hier modisch ein bisschen umgestiegen ist und ihre Zeiten längst viel moderner sind, erinnert "Wie Blut so rot" auf eine unterschwellige Art und Weise an das Märchen und erzählt, neben dem Handlungsstrang aus dem ersten Band, die Geschichte von Scarlet, die auf der Suche nach ihrer Großmutter nicht nur sich selbst, sondern viele Geheimnisse findet und sich, gemeinsam mit dem Leser, auf eine aufregende und spannende Reise begibt. Charismatische Figuren, Spannung und ein ganz besonderer Charme - das macht "Wie Blut so rot" aus und macht es so rund. Die Idee rund um diese Reihe ist so simpel wie genial und macht einfach durchweg Spaß! Wer den ersten Band gelesen hat, wird wohl um den zweiten nicht herum kommen, denn "Wie Blut so rot" steht seinem Vorgänger in nichts nach, bietet aber auch noch Luft nach oben, sodass die Neugierde auf die Folgeteile bleibt. Auf jeden Fall lesen!
Marissa Meyer wurde in Tacoma, Washingtion, geboren und studierte an der Pacific Lutheran University. Sie liebt Fantasy, Grimms Märchen und Jane Austen. Sie hat Kreatives Schreiben mit dem Schwerpunkt Kinderliteratur studiert und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Katzen in Tacoma. Die vier Bände der "Luna-Chroniken" sind ihr Debüt als Schriftstellerin. Der zweite Band "Wie Blut so rot" wird im Januar 2014 in Deutschland erscheinen. [via Carlsen]
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ein vierter Band wird auch noch erscheinen