Gastbeitrag: Frank Heiniger
Mit ihrem neuen Album „Ordinary Corrupt Human Love“ schlägt Deafheaven überzeugender als je zuvor den unwahrscheinlichen Bogen zwischen düsterem Black Metal, sphärischem Shoegaze und luftig-leichtem Indie Rock.
Wer erstmals die neue Scheibe von Deafheaven auflegt, erlebt eine gehörige Überraschung. Sind mir hier fälschlicherweise die „Greatest Hits“ von Adele in die Finger geraten? Die ersten sanften Klavierarpeggios erinnern an „Someone Like You“ – und nicht unbedingt an einen Song, der aus der Feder des kalifornischen Blackgaze-Quintetts stammen könnte.
So unerwartet sich der Einstieg in „Ordinary Corrupt Human Love“ auch präsentiert – erstaunen dürfte er eigentlich nicht. Denn an Genrekonventionen haben sich Deafheaven noch nie gehalten. Einen ersten Beleg dafür lieferten die Kalifornier bereits 2013 auf ihrem Durchbruchalbum „Sunbather“: Für den harten Kern der Metal-Fans war die Mischung aus Black Metal, Shoegaze, Indie- und Post-Rock zu wenig trve, zu glattpoliert, zu hip. Eine Kritik, der die Band mit ihrem optischen Auftritt – Stichwort Skinny Jeans und sorgsam geliertes Haar – eher Vorschub leistete, denn sie zu entkräften.
Auf dem Nachfolgealbum „New Bermuda“ von 2015 wurde der Metal-Anteil zwar erhöht – zu hören etwa im klassischen Thrash Riffing des Openers „Brought to the Water“. Doch schien dies ebenfalls nicht auszureichen, die ewigen Nörgler verstummen zu lassen.
Dass Deafheaven auf „Ordinary Corrupt Human Love“ nun gleich mit dem äusserst zugänglichen „You Without End“ beginnt, deutet an: Was die Stilpolizei erwartet, kümmert die Kalifornier keinen Deut mehr. Vielmehr scheint die Band endlich die letzten musikalischen Fesseln abgelegt zu haben.
Die neu gewonnene Freiheit zeigt sich primär daran, dass sich Deafheaven auf „Ordinary Corrupt Human Love“ endlich auch traut, Songs komplett ohne Blastbeats und Geschrei auskommen zu lassen. Zwar deckte die Band bereits auf den Vorgängeralben das ganze Härtespektrum ab. Die leisen Zwischentöne dienten den aggressiveren Passagen aber höchstens als kontrastierendes Element – oder kamen (wie bei „Irresistible“ auf „Sunbather“) lediglich als Intermezzo zum Zug.
Weit ins Terrain von Shoegaze und Dream Pop dringt die Band etwa mit „Near“ vor – ein Track, der mit seinen reverb-getränkten Gitarren, dem entspannten Drumming und den zurückhaltenden Vocals selbst auf einem Slowdive-Album gut aufgehoben wäre. Ungewohnte Gefilde beschreiten die Kalifornier auch mit dem pianolastigen „Night People“, ein Duett mit Chelsea Wolfe, auf dem George Clarke beweist, nicht nur schreien, sondern auch singen zu können.
Fans der härteren Seite Deafheavens kommen auf «Ordinary Corrupt Human Love» aber ebenfalls auf ihre Kosten. Etwa beim Track „Honeycomb“, der tendenziell in der Tradition der Vorgängeralben gehalten ist. In gewohnter Art treffen hier bezaubernde Gitarrenmelodien auf schnelle Blastbeats und Clarks heiseres Gekeife, bevor bei Minute vier der erste Stilwechsel erfolgt und der Song plötzlich sonniges Indie-Rock-Feeling à la Dinosaur Jr. versprüht – und bei Minute acht in einen nicht minder schönen postrockigen Schlussteil mündet.
Fazit: Mit den sieben Songs auf „Ordinary Corrupt Human Love“ ist Deafheaven ein grosser Wurf gelungen. Erneut schafft es das Quintett – womöglich überzeugender als jemals zuvor –, die düstere Grundstimmung mit Momenten der Hoffnung oder gar Euphorie anzureichern. Ein Übersong wie „Dream House“, der monumentale Opener auf „Sunbather“, mag zwar fehlen. Doch Deafheaven beweisen, welch enormes kreatives Potenzial in der Band schlummert. Wer die Scheuklappen ablegt, wird mit einem grandiosen Album belohnt.
9/10