Mit “Der Wolkenatlas” konnte mich David Mitchell damals zum ersten Mal sehr überzeugen und sein neuester Roman, “Die Knochenuhren”, hat mich sofort wieder neugierig gemacht.
Erzählt wird im Grunde die Lebensgeschichte von Holly Sykes, die als junges Mädchen von Zuhause ausreißt, einer älteren Frau beim Angeln begegnet und ihr einen Gefallen tut, in dem sie ihr “Asyl” verspricht. Holly vergisst schnell diese etwas befremdliche Begegnung und weiß zu dem Zeitpunkt nicht, dass dies ein sehr wichtiger Wendepunkt in ihrem Leben sein wird. So führt sie ihr recht einfaches Leben weiter, welches lediglich hin und wieder von mysteriösen Vorahnungen, Visionen, Begegnungen und kurzen Zeitlücken geprägt wird.
Ich muss mal wieder gestehen, dass ich absolut anfällig für hübsche Covergestaltungen bin. Sehr anfällig sogar. Und so hätte ich mir diesen Roman wahrscheinlich auch nur wegen dieses Covers gekauft, weil ich es so gelungen finde. Bereits im Original habe ich das farbenfrohe, aber dennoch schlichte Cover bewundert; umso größer war die Freude, dass der Rowohlt Verlag dieses großteils übernommen hat. Im Rückblick kann ich zudem sagen, dass es auch ganz wunderbar zum Inhalt der Geschichte passt, besonders da es viele kleine relevante Details enthält, wie beispielsweise den goldenen Apfel, den Leuchtturm, die Vögel oder die Kassette. Kurzum: großartig.
Wen bei “Der Wolkenatlas” womöglich die verschiedenen Schreibstile abgeschreckt haben, darf beruhigt sein: der Schreibstil in “Die Knochenuhren” ist zwar etwas einzigartigerer als in gewöhnlichen Romanen, lässt sich jedoch sehr gut lesen. Mitchell versteht es definitiv, sich mit Wörtern auszudrücken – noch nie habe ich mir so viele kluge, schöne Sätze markiert.
Aufgeteilt ist die gesamte Geschichte in sechs große Abschnitte, von denen lediglich der erste und sechste – der gleichzeitig letzte – Abschnitt die Handlung aus Hollys Perspektive erzählen. Sehr passend übrigens: Anfang und Ende. Die übrigen Abschnitte – denen immer ein größerer Zeitsprung voraus geht – erzählen oftmals ganz andere Geschichten diverser Personen, deren Zusammenhang zu Holly Sykes oft gar nicht klar erkennbar ist. Meist werden diese kleineren, aber auch größeren Zusammenhänge erst gegen Ende des jeweiligen Abschnittes dem Leser bewusst. So gesehen ist jeder einzelne neue Zeit- und Handlungsabschnitt wie eine kurze, ganz neue Geschichte inmitten der ganz großen Hauptgeschichte.
»Macht wird verloren oder gewonnen, sie lässt sich weder schaffen noch zerstören. Macht gehört nicht den von ihr Ermächtigten, sie ist nur ein temporärer Gast. Wahnsinnige streben nach ihr, viele geistig Gesunde ebenfalls, die Weisen aber fürchten ihre Langzeitnebenwirkungen.«
– Seite 133
Zugegebenermaßen haben mich diese Zeitsprünge und Perspektivwechsel zunächst teilweise verwirrt und gestört, da sie eben natürlich öfters an besonders interessanten Stellen aufhören und man sich dann als Leser von der einen zur nächsten Seite gänzlich neu orientieren muss. Doch im Nachhinein – im fünften Abschnitt um genau zu sein – fügen sich selbst die noch so kleinsten Teile des Puzzles zu einem wunderbaren, großen Ganzem zusammen. All die noch so mysteriösen Merkwürdigkeiten, die bis dahin in der Handlung vorkommen oder nur kurz erwähnt und angerissen werden, werden schließlich erklärt. Verbindungen, die man selbst nie für möglich gehalten hätte, werden plötzlich ganz klar sichtbar. Viele bis dahin ungeklärten oder unbekannten Punkte aus dem Leben von Holly Sykes werden so teilweise erst Jahrzehnte später dem Leser offenbart. Und genau dies war der Punkt, welcher mich bereits bei “Der Wolkenatlas” so begeistert hat: wie großartig Mitchell es gelingt, aus den verschiedensten kleinen Geschichten eine einzige, einheitliche und gewaltige Geschichte zu schaffen.
Mitchell erzählt hier aber nicht nur die Lebensgeschichte von Holly Sykes, sondern auch die Geschichte der Horologen und Anachoreten. Während die Horologen einfach nur Menschen sind, deren Seele über Jahrhunderte lang nach dem Tod eines Menschen nach einer gewissen Zeit in einen neuen, anderen Körper fährt, sind Anachoreten gezielt auf der Suche nach bestimmten Seelen, die sie übernehmen können. Dies ist die einfachste Erklärung – die Wahrheit ist um einiges komplizierter, wird im Roman aber genauestens erklärt. Ich persönliche mochte diese etwas übernatürlich angehauchten Elemente der Geschichte sehr, zumal sie in den ersten vier Abschnitten nur sehr verstreut vorkommen und genauso plötzlich wieder aus der Handlung verschwinden, wie sie immer auf einmal auftauchen. Dies sorgt zwar in der Tat jedes Mal für einige Verwirrung, macht meiner Meinung nach aber auch einen großen Teil des Mitchell-Charmes aus.
»Veränderungen sind das Betriebssystem unserer Welt.« – Seite 762
Auch Mitchells Vision der Zukunft im Jahr 2043 fand ich unfassbar interessant. Mitchell hat sich hier einhergehend mit der Frage beschäftigt, wie unsere Welt wohl in gut zwanzig Jahren aussehen wird und seine Perspektive konnte mich durchaus zum Nachdenken anregen. Ich frage mich oft, inwieweit sich unsere Welt noch verbessern, weiter entwickeln kann und Mitchells Ansatz, dass die Entwicklung in naher Zukunft rückläufig sein wird, finde ich durchaus plausibel. Irgendwann sind die Ölreserven aufgebraucht, die Umwelt zu sehr geschädigt, als dass sie uns noch nutzen könnte, die Klimaveränderungen zu drastisch geworden. So ist der sechste Abschnitt nochmals eine ganz eigene kleine Geschichte, die man tatsächlich als Dystopie bezeichnen kann. Und dazu noch ein sehr würdiger Abschluss für die gesamte Geschichte.
»Normal ist immer das, was man für selbstverständlich hält.« – Seite 665
“Die Knochenuhren” ist mal wieder ein sehr außergewöhnlicher Roman, deren Inhalt sich nicht zusammen fassen lässt, deren Geschichte man gar nicht mal wirklich beschreiben kann, man muss diese schlichtweg von der ersten bis zur letzten Seite an selbst lesen und erleben. Zugegeben, man benötigt vielleicht manchmal ein wenig Geduld und darf nicht aufgeben, aber wenn man dies tut, wird man mit einer einzigartigen und unfassbar vielfältigen Geschichte belohnt, die eine einzige Genre-Mischung ist. Wieder einmal ein zeitloser Mitchell-Roman, den man immer und jedem empfehlen kann.