Rezension: Ciarán Collins – Tausend Worte (Berlin-Verlag, 2014 [2013])

Von Vigoleis01

Das Debüt des jungen Iren Ciarán Collins (*1977), “Tausend Worte”, ist eine packende Mischung aus Dorfgeschichte, Liebesdrama und Coming-of-Age-Roman – unkonventionell erzählt von einer Figur, die unzuverlässiger kaum sein könnte.

“Ihr werdet mich nicht mögen. Vor allem, weil ihr wisst, dass es mir egal ist, ob ihr mich mögt oder nicht, und so was kommt nicht gut, oder? Manche sagen vielleicht, dass es ihnen gefällt, aber das stimmt nicht. Es bedeutet nichts, was jemand sagt, denn es könnte ja auch gelogen sein. Ich werde die ganze Zeit die Wahrheit sagen.”

Mit diesen Worten führt sich der Ich-Erzähler dieser Geschichte, Charlie McCarthy, selbst ein. Er ist fünfundzwanzig, stammt aus dem irischen Dorf Ballyronan, wo er seine ganze Jugend verbracht hat. Er ist der “gamal” des Ortes (daher der Originaltitel des Romans: “The Gamal”): der Dorftrottel. Sein “Gehirnklempner” Dr. Quinn hat ihm den Auftrag erteilt, jeden Tag tausend Worte zu schreiben, seine Geschichte schreibend aufzuarbeiten. Charlie ist gänzlich unwillig zu schreiben, tut es aber dennoch. Den Vorurteilen, die ihm entgegengebracht werden, begegnet er mit einer Fassade der Dorftrottelei, hinter der sich aber, wie etwa sein unterschwelliger Humor zeigt, ein durchaus wissender junger Mann verbirgt. Einer, dem man nicht alles glauben sollte. Ein klassischer “unzuverlässiger Erzähler”, um in literaturwissenschaftlichen Kategorien zu sprechen.

Titel: Tausend Worte
Original: The Gamal (2013)
Autor: Ciarán Collins
Übersetzung: Gabriele Haefs
Verlag: Berlin-Verlag
ISBN: 978-3-8270-1190-9
Umfang: 448 Seiten, gebunden m. Schutzumschlag

Was er zu erzählen hat, sind zunächst einmal eine  ganze Menge von Szenen aus dem Dorfleben, geschehen fünf  oder mehr Jahre vor der Niederschrift. Insbesondere beschreibt er alltägliche Begebenheiten innerhalb der Clique, mit der er sich rumtrieb. Während die Trinker Dinky, Snoozie, Teesh und Racey ihn als Idioten eher verspotten, akzeptieren ihn Sinéad und ihr Freund James – die Hauptcharaktere der Handlung, die Epizentren, um die sich Charlies Leben dreht – als Freund. James Kent ist ein reicher, sportlicher Protestant, der mit seiner Familie von ausserhalb in die Gegend zog, und somit Eifersucht und Neid auf sich zieht. Seine Freundin Sinéad ist eine bildschöne, aufreizende junge Frau, die mit der Stimme eines Engels gesegnet ist. Und engelsgleich, so stellt Charlie sie auch dar; sie, die als Einzige erkannt haben will, dass er kein “gamal” ist; sie, für die er alles tun würde – vielleicht auch der Wahrheit etwas nachhelfen? Oder gar noch Schlimmeres?

Bald wird nämlich klar, dass etwas Schlimmes geschehen sein muss. Charlie durchmengt seine Erzählung mit Protokollen aus einem Gerichtsprozess, in dem all diese Figuren ihre Aussagen tätigen. Selbst schweift er immer wieder ab, widmet sich, anstatt die Geschichte voranzutreiben, detailreichen Schilderungen des Lebens, das er mit James und Sinéad geführt hat, referiert über Songs, die sie gemeinsam gehört haben, fügt Zeichnungen und Fotografien in den Text ein. Es dauert mehr als 250 Seiten bis schliesslich Licht in die dunkle Vergangenheit gebracht wird: ein Eifersuchtsdrama von Shakespear’schen Ausmassen offenbart sich. Lügen, Missverständnisse, Intrigen, Gewalt und Tod zeigen ihre hässlichen Gesichter und beschreiben auf brutalste Weise den Niedergang des einstmals, zumindest an der Oberfläche, feucht-fröhlichen Dorftreibens…

Dass es trotz aller Abschweifungen auch in den ersten zwei Dritteln des Buches nicht langweilig wird, liegt an der durchgehend schnoddrigen, launigen Erzählstimme von Charlie, der kein Blatt vor den Mund nimmt – obschon auch ihm bisweilen die Worte zu fehlen scheinen. Oder ihm Übelkeit verursachen:

“Eben habe ich Kaffee und Plätzchen erbrochen. Ich glaube, das kam davon, dass ich diese Wörter im Wörterbuch nachgeschaut habe. Es ist widerlich, was manche Wörter über uns sagen, oder? Und dass wir auf sie angewiesen sind, und doch reden sie alle über Freiheit. Und alles schmeckt besser als Kotze. Sogar Senf.”

Diese Ohnmacht im Angesicht der Worte hatte auch schon Sinéad befallen (“…der Sprache fehlen die Worte, verstehst du?”) und ist ein spannendes, öfter wiederkehrendes Motiv. Bezeichnenderweise stehen immer da, wo Charlie die Worte wichtig wären,  nur leere Zeilen: “Dr. Quinn hat mit den Juristen geredet (…), und die sagen, dass ich den Leuten, die die Lieder geschrieben haben, Millionen bezahlen muss, um die Texte in mein Buch aufnehmen zu dürfen.” Es handelt sich um Songtexte, die er, gemeinsam mit der zugehörigen Musik, als essenzielle Bestandteile der Welt von Sinéad und James bezeichnet.  Auch die Musik, in ihrer Beziehung zur Sprache und unabhängig davon, ist ein zentrales Thema des Buches.

Mit “Tausend Worte” liefert Ciarán Collins ein überzeugendes Debüt ab, das in seinen schwächsten Momenten vielleicht belanglos genannt werden könnte, in seinen stärksten aber regelrecht aufwühlend ist. Und am Schluss einige Fragen im Raum stehen lässt, insbesondere diejenige, wer denn nun genau welche Schuld auf sich zu nehmen hat.


Anmerkung zur Übersetzung: Gabriele Haefs ist es gelungen, einen aufgrund seiner derben, vulgären Sprache sicherlich nicht leicht übertragbaren Text, in ein ähnlich kräftiges Deutsch zu übersetzen, das zu keiner Zeit peinlich oder bemüht wirkt, so dass Charlie und die restliche Besetzung auch übersetzt glaubhafte, charakterstarke Dorfjugendliche abgeben.