Orwell für die Generation Assange: Weil er in den drei Jahren, die seit seiner Entstehung vergangen sind, nichts an Aktualität eingebüsst hat, wird Benjamin Steins (gar nicht mal so) utopischer Roman über eine Gesellschaft der totalen Transparenz jetzt bei dtv neu aufgelegt. Wir müssen uns fragen: Blinken auch hinter unseren Schläfen bald blaue Lichter?
Aus dem Bedürfnis heraus “teilnehmen zu können an dieser Kommunikation der grossen Geheimnisse”, das in ihm während des Bar-Mitzwa-Unterrichts reift, wird der junge Ed Rosen Softwareentwickler (er nennt es: “Codierknecht”) einer aufstrebenden Firma im kalifornischen Silicon Valley. Selbst entstellt durch ein unbewegliches rechtes Auge, das ihm räumliches Sehen verunmöglicht, ist er Experte für Softwaresysteme, die versuchen zwischen “organischem Nervengewebe und anorganischen, nervenähnlich arbeitenden Systemen” Verbindungen herzustellen.
Vom ersten Tag an hat Ed eine besondere Verbindung zum mysteriösen, guruartigen Chef des Unternehmens, dem chilenischen Neurobiologen Matana (der teilweise nach dem realen Vorbild Humberto Maturana modelliert wurde). Seiner Firma hat dieser ein Logo verpasst – ein Paar weit geöffneter Augen -, das bezeichnend ist für seine ambitionierte Vision: Die Blinden sehend machen.
Ed entwickelt im Auftrag ein ausgefuchstes Implantat, das er selbst als Erster testet: das UniCom. Dieses Gerät, das ins Auge eingesetzt wird, zeichnet alles, was sein Träger sieht, auf und erlaubt es dadurch nicht nur Erinnerungen später beliebig oft abzuspielen, sondern etwa auch diese um zusätzliche Elemente zu ergänzen. Die Konsequenz ist so simpel wie schockierend: “Keine Erinnerung geht mir verloren, die ich nicht selbst verloren gebe.” Weitere Funktionen kommen hinzu, das Implantat wird zum Supercomputer, ist Pass, Fahrausweis, Fernseher, Kamera und Nachrichtenübermittler zugleich.
“Die Corporation ging auf Shopping-Tour: Filmstudios, TV-Networks und Patente für Technologien, die sich bis dahin nicht hatten durchsetzen können, in Verbindung mit dem UniCom aber doch noch zu ihrer eigentlichen Bestimmung fanden. Sprach- und Bilderkennung, auf beliebige Flächen projizierbare Tastaturen, an die Augenbewegungen gekoppelte Zeigegeräte, die eine herkömmliche Computermaus ersetzen konnten – das alles holte Matana unter das Dach der Corporation, die es ins UniCom integrierte. Das Implantat wurde zum universellen mobilen Computer, der so gut wie nichts wog, den man immer dabei hatte und der permanent auf Empfang war, verbunden mit der gesamten digitalen Welt.”
Innerhalb kurzer Zeit entwickelt sich das UniCom zum globalen Hit und zum unabdingbaren Bestandteil des Alltags für 70 % der amerikanischen Bevölkerung. Die “Corporation”, wie Ed die Firma nennt, der er nun sein ganzes Leben verschrieben hat, steigt zur mächtigsten Organisation des Landes auf. Auf der anderen Seite wird, wer kein UniCom tragen will bald zum “Anonymen”, zu einem ausgestossenen Individuum, dem alle Privilegien des gesellschaftlichen Lebens abhanden kommen. Ed freilich bringt kein Verständnis für die Verweigerer auf. Er sagt: “Wir unterdrücken nicht. Wir sind Dienstleister, helfen und unterhalten.”. Oder: “Aus welchem Grund sollte jemand anonym bleiben wollen, wenn er nichts zu verbergen hat?” Dass es keine Möglichkeit gibt, das Gerät, dessen Leuchtdioden hinter den Schläfen im Halbminutentakt blau aufleuchten, abzuschalten, spielt er herunter. Es gebe Probleme, sagt er, die von einer Gesellschaft als solche erkannt, aber dennoch akzeptiert würden. Was die Anonymen – ihr Sprecher ist tatsächlich Julian Assange – als “tyrannisches Zwangssystem” empfinden, nennt Rosen ein “Gebot der öffentlichen Sicherheitsinteressen”.
Steins Entscheidung, den Entwickler, ersten Träger und grossen Profiteur des ominösen UniCom, als Erzähler fungieren zu lassen, ist erstaunlich. Entscheidend ist, dass dadurch spannende Fragen, wie die Auswirkungen der UniCom-Gesellschaft etwa auf die Politik oder das kapitalistische Wirtschaftssystem unterschlagen oder nur am Rande angeschnitten werden. Intensiver widmet sich Ed den Nacherzählungen erotischer Abenteuer, die er mit seiner Freundin Katelyn und der Asiatin Lian erlebt hat; Abenteuer, die bisweilen gerade durch die neuen Möglichkeiten des UniCom prickelnde neue Dimensionen gewannen. Für ihn sind die Technologie und seine hingebungsvolle Arbeit daran die “reinste Form vollständiger Freiheit”. So ist es dem Leser überlassen, die Gegenseite weiterzudenken, sich die weitreichenden negativeren Folgen einer solchen neuen Macht für eine Gesellschaft auszumalen. Einerseits wundert man sich ob manch einer Lücke, andererseits ist die Perspektive erfrischend, da sie den Text der Gefahr enthebt, reiner Thesenroman zu sein.
Einigen stilistischen Missgriffen – exemplarisch sei die Überstrapazierung des Motivs Hirtengott Pan erwähnt – zum Trotz, ist Benjamin Steins “Replay” ein Roman, der auf geschickte Weise Problemfelder anspricht, die teilweise nicht einmal mehr als utopisch (bzw. dystopisch), sondern als Angelegenheiten mit explizitem Gegenwartsbezug gelten können. Die Gesellschaft totaler Transparenz ist nicht fern, ihre Gefahren sind evident. Matana erkennt es korrekt: Macht entsteht durch Unterwerfung. Unterwirft sich eine Gesellschaft einer neuen Technologie, ohne sie zu hinterfragen, verschiebt sich die Macht automatisch auf die Seite derer, die diese Technologie besitzen. In Zusammenhang mit dem Zitat, das Stein dem Text voranschickt, ergibt sich daraus ein beängstigendes Szenario. Der französische Regierungssprecher François Baroin sagte 2010 nach der WikiLeaks-Affäre: “Ich war immer davon überzeugt, dass eine transparente Gesellschaft auch eine totalitäre Gesellschaft ist.” Es ist wichtig, im Umgang mit persönlichen Daten im virtuellen Raum hin und wieder an diese Tatsache zu denken.
Weiterführend: Auf seinem Blog Turmsegler hat Benjamin Stein ab 2009 in der Kategorie ‘Replay’ Materialien, die in direktem Zusammenhang mit dem Roman und seinen Themenfeldern stehen, gesammelt. Ausserdem finden sich Links zu Interviews und etliche Auszüge aus Rezensionen.
Stein, Benjamin. Replay. München: dtv 2015. Taschenbuch, 176 Seiten. 978-3-423-14396-7