Rezension: Ayelet Gundar-Goshen – Löwen wecken (Kein & Aber 2015)

Von Vigoleis01

In ihrem zweiten Roman “Löwen wecken” entfaltet die israelische Autorin Ayelet Gundar-Goshen ein Panorama moralischer Fallstricke, stellt grosse Fragen nach Schuld, Machtmissbrauch und dem Wert eines Menschenlebens. Ein spannender Roman von lokaler politischer und weitreichender gesellschaftlicher Relevanz.

Etan Grien ist ein gut verdienender Neurochirurg, der mit seiner Frau, der Kriminalbeamtin Liat, und zwei Kindern in einem Haus im israelischen Be’er Scheva wohnt, ein ruhiges vertrauensvolles Familienleben führt: Ein prototypischer literarischer Charakter, insofern als er die optimale glattpolierte weisse Oberfläche abgibt, die sich nach und nach mit unzähligen feinen Rissen überziehen lässt…

Eines Abends nach der Arbeit fährt Etan mit seinem Jeep nicht direkt nach Hause, sondern fährt hinaus in die Dünen, bestaunt die nächtliche Landschaft und den vollen Mond – und fährt einen Mann um. Als Etan aussteigt, werden ihm zwei Dinge klar: dass der Mann sterben wird und dass es sich bei diesem Mann um einen der vielen illegalen eritreischen Immigranten handeln muss, um einen Mann also, um den die Polizei kaum Aufhebens machen wird. Er fällt den fatalen Entscheid und fährt davon.

“Und doch stand er auf, lief zum Jeep und kam mit dem Verbandskasten zurück, hatte schon ein Verbandspäckchen aufgerissen, als er jäh erstarrte. Was soll das. Dieser Mann wird sterben.
Und als es endlich auftauchte, das klare Worte, spürte er, wie alle Organe in seinem Bauch sich schlagartig mit Eis überzogen. Eine weisse Reifschicht breitete sich aus, von der Leber zum Magen, vom Magen zum Darm. Der gewundene Dünndarm misst sechs bis acht Meter, über drei Mal mehr, als ein Mensch gross ist. Sein Durchmesser beträgt um die drei Zentimeter, aber die Dicke variiert nach Altersstufe. Der Dünndarm gliedert sich in Zwölffingerdarm, Leerdarm und Krummdarm. Etan fand seltsame Ruhe in diesen Daten, eine weisse und eisige Ruhe.”

Am nächsten Tag aber steht plötzlich die Frau des toten Eritreers vor Etans Haustür und überreicht ihm seine Geldbörse, die er am Tatort zurückgelassen hat. Er glaubt, sie werde Geld verlangen, das er zum Schutze seiner selbst und seiner Familie sofort zu zahlen bereit ist. Die Eritreerin, Sirkit, macht Etan jedoch ein anderes Angebot: Sie will seine kostenlose ärztliche Versorgung für die vielen illegal über die Grenze gelangten Einwanderer, die ihre mannigfaltigen Verletzungen und Krankheiten in den Krankenhäusern behandeln lassen können. Abend für Abend fährt Etan von nun an, schuldgeplagt und bald um Ausreden seinem Arbeitgeber und seiner Familie gegenüber verlegen, in eine schäbige Werkstatt, wo er unter hygienisch miserablen Bedingungen verwundete, kranke, infizierte, schwangere und verprügelte Immigranten behandelt.

Die praktizierende Psychologin Ayelet Gundar-Goshen (*1982) versteht es in ihrem zweiten Roman hervorragend, sich Fragen nach Schuld, Machtmissbrauch und dem Wert eines Menschenlebens aus unterschiedlichen Perspektiven anzunähern. Ausgehend von einer verblüffenden ethisch-moralischen Zwickmühle, in der sich bald alle beteiligten Parteien befinden, zeichnet sie ein nachvollziehbares Bild der sozialen und politischen Hierarchien Israels, das sich aber in seinen grundsätzlichen Fragen durchaus auch auf unsere Gesellschaft anwenden lässt. Den konkreten Unstimmigkeiten zwischen Israeli, Beduinen und Eritreern bettet sie geschickt in den Kontext übergreifender moralischer  zwischenmenschlicher Themen ein.

In eindringlicher, mal nüchterner, mal poetischer Sprache verwebt Gundar-Goshen die unterschiedlichen Blickwinkel auf dieselbe Geschichte zu einem formvollendeten Ganzen. Die Charaktere, insbesondere Etan und Sirkit, sind nahezu plastisch geformt, ihre Ambivalenzen deutlich spürbar.  Obschon manch eine minutiöse Beschreibung häuslicher Details des Grien’schen Familienlebens als Länge empfunden werden mag, vermag “Löwen wecken” die Spannung über seine volle Länge aufrechtzuerhalten. Der Autorin gelingt es mit diesem Text, Spannungsliteratur von lokaler politischer und weitreichender gesellschaftlicher Relevanz zu erzeugen.

Gundar-Goshen, Ayelet. Löwen wecken. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Zürich: Kein & Aber 2015. 432 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-0369-5714-2