Beth und Ryan hielten einander an den Händen, was durchaus reichte, um eine offizielle Vorladung wegen eines Sittsamkeitsvergehens zu riskieren, aber ich sagte nichts dazu.
Die siebzehnjährige Ember Miller lebt im Amerika der Zukunft, in dem Bücher und uneheliche Kinder unsittsam sind und die traditionellen Geschlechterrollen unbedingt eingehalten werden müssen. Immer wieder verschwinden Menschen, die von der Moralmiliz verhaftet werden, weil sie gegen Artikel verstoßen haben und kehren nicht wieder zurück. Ember ist ein uneheliches Kind und als eines Tages die Moralmiliz vor ihrer Tür steht und sie und ihre Mutter mitnimmt, bricht ihr Leben auseinander. Nicht nur, weil sie von ihrer Mutter getrennt wird und selbst in eine Resozialisierungsanstalt für Damen gesteckt wird, sondern auch, weil derjenige, der bei der Verhaftung dabei war Chase ist. Den, an den Ember ihr Herz verloren hat und den sie schon kennt, seit sie ein kleines Mädchen war. Ember jedoch kämpft gegen das totalitäre System - schließlich muss sie ihre Mutter finden, doch das kann sie nur mit Chase, der nicht mehr der junge Mann ist, den sie einst gekannt hat...
Kühle Distanz - so könnte man den Schreibstil von "Artikel 5" in wenigen Worten beschreiben. Viele dystopische Geschichten haben diese kalte und distanzierte Atmosphäre; vielleicht, weil die meisten auf irgendeine Art und Weise grausam sind, vielleicht, weil Dinge, die man nicht kennt, sich immer kühl anfühlen. In diesem Fall ist es mir aber mehr als sonst aufgefallen, dass "Artikel 5" trotz Innenperspektive fast permanent distanziert und vornehm kühl bleibt. Es ist eben dieser typische Dystopieschreibstil - kurz und knackig, spannend und auf den Punkt gebracht. Zwar lässt sich Simmons auch Zeit für Gefühle, aber Protagonistin Ember hat mich dennoch nicht hunderprozentig erreichen können. Simmons Schreibstil ist dennoch flüssig und angenehm lesbar ohne dabei blumig oder kitschig zu werden. Im Gegenteil - ein wenig Wiedererkennungswert hätte dem Stil sicherlich ganz gut getan, so bleibt der langsam etwas fad werdende Beigeschmack eines typischen Dystopieschreibstils.
Irgendwann, wenn man in vielen Genres schon öfter unterwegs war, braucht der Leser mehr als nur Brutalität, mehr als nur Hassliebe und mehr als nur ein grausames Regime, um von einer Dystopie wirklich mitgerissen zu werden. Da aber die meisten Romane dieser Art ein ähnliches Schema verfolgen, das man als "Kenner" in dem Genre schnell durchschauen kann, ist es (für mich) inzwischen schwierig noch etwas zu finden, was mich nicht an dreihundert andere Bücher erinnert. "Artikel 5" ist da sicherlich keine Ausnahme, auch wenn die Geschichte viele neue und interessante Ideen mit sich bringt - gerade das Grundgerüst ist hier gut durchdacht. In der Umsetzung hilft "Artikel 5" jedoch auch ein interessantes Grundgerüst wenig - Originalität ist hier gefragt und die finde ich in diesem Buch leider weniger. Zwar weiß die Geschichte um Ember und Chase durchaus zu unterhalten und weist einen durchgängig hohen Spannungsbogen auf, doch insgesamt kommt mir von dem totalitären System etwas zu wenig durch - prinzipiell könnte man "Artikel 5" als dystopischen Roadtrip (der Gefühle) bezeichnen.
Dass nichts passiert kann man dem Buch nun wirklich nicht vorwerfen, denn der Leser wird direkt zu Beginn in das Geschehen katapultiert - und das geht tatsächlich direkt auf der fünften Seite so richtig los. Simmons lässt einen auf den ersten hundert Seiten wenig Platz zum Atmen und Erholen von den Grausamkeiten, die - gerade psychisch - wirklich harter Tobak sind. Was jedoch fehlt, ist eine detaillierte Ausarbeitung der Welt: Wer hält die Fäden in der Hand, von wem geht das System überhaupt aus? Warum genau gibt es die Moralstatuten, wer hat sie ins Leben gerufen? Die Hintergründe fehlen einfach komplett, sodass es schwer fällt, sich wirklich auf die Geschichte einzulassen, wenn man das Ziel nicht kennt. Der Haupthandlungsstrang fokussiert sich fast das ganze Buch darauf, dass Chase und Ember auf der Flucht sind und nach Embers Mutter suchen und so bleibt die Geschichte doch die meiste Zeit etwas eintönig...
...was womöglich auch an Protagonistin Ember selbst liegen könnte. In vielen Rezensionen habe ich gelesen, dass Ember als "zickig" empfunden wurde, auf mich hat sie so allerdings nicht gewirkt. Wie soll sich ein Mädchen, das so viel Grausamkeiten erlebt hat denn sonst verhalten? Natürlich ist sie skeptisch, natürlich kann sie niemandem vertrauen - gerade Chase nicht, der sie zwar rettet, ihr aber so wenig Informationen gibt, dass er gut auch eigene grausame Pläne verfolgen könnte. In der Hinsicht fand ich Ember daher sehr realistisch gezeichnet - und ihre Skepsis und ihr Misstrauen haben mir mit am besten gefallen. Sie handelt zeitweise vielleicht ein wenig unüberlegt und schadet damit mehr Leuten, als sie wollte, aber das ist meiner Meinung nach in Anbetracht der Tatsachen doch eher menschliches Verhalten. Viel mehr als das haben mich ihre permanent gleichen Gedanken genervt, denn Ember denkt tatsächlich immer nur dasselbe: an ihre Mutter, an Chase, Mutter, Chase, Mutter - und das in einem ständigen Konflikt. Dahingegen wirkt Chase, der vorrangig als brutal und geheimnisvoll dargestellt wird, doch ziemlich sympathisch. Zwar habe auch ich zeitweise überlegt, ob er vertrauenswürdig ist, doch spätestens als die erste Menschlichkeit wieder in ihm aufkeimt, waren diese Zweifel ausgelöscht.
Die Geschichte ist nicht schlecht, aber doch irgendwie sehr stereotypisch und an manchen Stellen wenig ausgearbeitet. Gerade über die Welt, den Krieg und das System hätte ich gerne mehr erfahren, um diese Verhältnisse vielleicht besser verstehen zu können. Was Spannung und düstere Atmosphäre angeht, hat Simmons jedoch den Nagel auf den Kopf getroffen - die Geschichte ist rasant und wird selten wirklich langatmig. Auch die Liebesgeschichte gefiel mir ab einem bestimmten Punkt sehr gut, einfach, weil Chase und Ember sich schon kannten und es nicht diese typische Liebe für immer und ewig ist, auf die man in so vielen anderen Büchern stößt. Die Idee mit den Moralstatuten war auch einmal etwas anderes - es gibt so gut wie keine zukunftsweisende Objekte in dem Buch, das ganze wirkt eher, als wäre man in der Zukunft wieder da, wo man (von jetzt aus gesehen) vor sechzig Jahren war und dieser Transport von einer Anlehnung an den Nationalsozialismus in die Zukunft hat mir sehr gefallen. Hier gerne noch mehr Informationen im nächsten Band - das würde womöglich auch der Handlung gut tun.
"Artikel 5" ist eine der Dystopien, die ich zwar gern gelesen habe und mich auch mitreißen konnten, die mich aber nicht hundertprozentig in den Bann gezogen haben. So glänzt die Geschichte mit vielen originellen Ideen, die aber leider nicht so originell umgesetzt worden sind. Sofort auffallend ist die, für dystopische Geschichte, so unverwechselbare kühle Distanz, die in "Artikel 5" dazu führte, dass es mir schwer fiel, Ember in mein Herz so schließen, sodass mir die Figuren zwar gefielen, ich aber kaum mit ihnen leiden konnte. Schade, denn diese emotionale Ebene hätte der Geschichte das gewisse Etwas geben können, ebenso wie eine detailliertere Ausarbeitung des Systems und der Welt. Viele Fragen bleiben offen, die in dem Buch nicht einmal ansatzsweise geklärt werden und so liegt der Fokus hier eher auf der Flucht und der Liebesgeschichte, die sich zwar langsam entwickelt, aber merklich einen Haupthandlungsstrang einnimmt. Definitiv unterhaltsam und flüssig lesbar und daher bekommt "Artikel 5" von mir lesenswerte und (wegen dem Folgeband) erwartungsvolle 3,5 Herzen.
Kristen Simmons lebt in Tampa, Florida. Sie studierte Psychologie und Sozialarbeit an der University of Nevada und arbeitet heute als Psychotherapeutin mit Traumapatienten und Missbrauchsopfern. Mit »Artikel 5« gelang Kristen Simmons ein beeindruckendes Debut, dessen Geschichte in »Gesetz der Rache« fortgesetzt wird. [via ivi]
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