Rezension: Arnon Grünberg – Der Mann, der nie krank war (KiWi, 2014)

Grünberg macht den Kafka: In seinem neuen Roman “Der Mann, der nie krank war” – seinem ersten, der auf deutsch bei Kiepenheuer & Witsch erscheint – lässt er den ambitionierten Schweizer Architekten Samarendra Ambani Satz für Satz die Kontrolle über sein Leben verlieren. Ein schwer verdaulicher Roman über Erniedrigung, Liebe und das Aufeinanderprallen europäischer und arabischer Kulturen.

grunberg

Titel: Der Mann, der nie krank war
Original: De man zonder ziekte
Autor: Arnon Grünberg
Übersetzung: Rainer Kersten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-04660-1
Umfang: 240 S. gebunden m. Schutzumschlag

Der niederländische Autor Arnon Grünberg ist weit gereist. Unlängst versammelte er im Sammelband “Couchsurfen und andere Schlachten”  die auf diesen Reisen gesammelten Eindrücke, unter anderem etwa aus einem Armeecamp in Afghanistan. Und in ein nahöstliches Kriegsgebiet geht denn auch die erste Reise des Samarendra Ambani, von Freunden Sam genannt, dem Protagonisten des neuen Romans, dem Mann, der nie krank war.

Sam ist ein junger, ambitionierter, doch sehr selbstgefälliger Architekt. Gemeinsam mit seiner Mutter pflegt er seine schwerkranke Schwester Aida, die er vorgibt über alles zu lieben. Mehr noch als seine Freundin Nina, die er eher nach rationalen Kriterien als perfekte Frau für sich betrachtet. Eine dubiose Organisation namens World Wide Design Consortium hat Sam als Finalisten eines Wettbewerbs nach Bagdad eingeladen: Es geht um den Bau einer neuen Oper für die kriegsgebeutelte Stadt. Sams Firmenpartner Dave will sich an dem Projekt nicht beteiligen, er hält es für zu riskant. Sam aber will den Auftrag um jeden Preis: der scheinbare Idealismus des Auftraggebers hat ihn überzeugt. Er ist so besessen davon, dass es ihm als Architekt obliegt, die Welt zu verbessern, dass er annimmt und hinfliegt.

Eine turbulente Reise, die ihn nach Bagdad,  zurück in die Schweiz und letztlich nach Dubai führt, nimmt ihren Lauf. Sam A. fungiert als eine Art Josef K. fürs 21. Jahrhundert: stets glaubt er sich im Recht, ist sich seiner Unschuld bewusst, während ihn Beschützer, Polizisten, Folterer, Diplomaten und  Richter vom Gegenteil zu überzeugen versuchen. Grünberg zieht seinem Protagonisten gnadenlos den Boden unter den Füssen weg: seien es irakische Folterknechte, amerikanische Geheimagenten, asiatische Geschäftspartner oder Schweizer Studentinnen, Sam verliert Satz für Satz die Kontrolle über sein Leben an andere, ihm kaum bekannte Menschen. Wie bei Kafka ist es zu einem grossen Teil die Ungewissheit, die den Schrecken der Geschichte ausmacht: Niemand bemüht sich um Erklärungen, für die Richter und Henker steht das Urteil fest, bevor es überhaupt zu einem Prozess kommen kann. Die vollkommene Gesundheit Sams, der sein Leben lang nie krank war, wird zur Farce im Angesicht der Torturen, die ihm widerfahren. Und letztlich einfach zu einem weiteren Punkt, der gegen ihn zu sprechen scheint…

Grünberg ist ein Autor, der das Drastische, das eine solche Geschichte erfordert, nicht scheut. Wer Mühe hat mit Fäkalien, Urin, ekelerregenden Sexualpraktiken oder Gewalt, sollte entweder die Finger von dem Buch lassen oder bestimmte Stellen einfach überlesen. Glücklicherweise aber setzt der Autor die genannten Dinge niemals aus purer Effekthascherei ein, sondern um gezielt die grossen Themenkreise dieses Romans zu demonstrieren: Es geht um Erniedrigung, um Kontrollverlust, um Trauma, um das Aufeinanderprallen europäischer und arabischer Kulturen, die zu viele Missverständnisse durchlebt haben, um sich ohne Weiteres freundlich gesinnt zu sein.  Eine der Stärken dieses  Romans ist die Nüchternheit des Stils, die Grünberg zu jeder Zeit beibehält: sei es ein romantischer Spaziergang durch Rom oder eine gewalttätige Szene in einem irakischen Folterkeller, der Autor ist stets neutraler Beobachter. Er beschreibt in klaren, unkomplizierten Sätzen, was passiert, und das macht das Erlebnis noch packender, noch intensiver.

“Er sucht sich eine Haltung zum Schlafen, was jedoch nicht so einfach ist. Einerseits, weil der Boden kalt, hart und glatt ist, andererseits, weil ihm die Hände noch immer auf den Rücken gebunden sind. Er kann sich aufs Handtuch legen, doch viel bringt das nicht.
Zu guter Letzt wählt er wieder die Haltung des verunstalteten Igels.
Er leckt den Reis auf, und um sich selbst ein bisschen zu unterhalten, versucht er die Erbsen, die nicht zertreten sind, mit der Zunge über den Boden zu schiessen.”

Ein Buch, das tonnenschwer auf dem Magen liegt – und genau deshalb als Meisterstück bezeichnet werden kann.


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